Polyneuropathie – ein Wort, das für viele Betroffene zunächst nur nach einer Diagnose klingt, tatsächlich aber eine ganze Lebensrealität beschreibt. Es geht um Nerven, die nicht mehr so funktionieren, wie sie sollen: zu empfindlich, zu träge oder gar stumm. Oft beginnt es schleichend. Ein Kribbeln in den Zehen, ein leichtes Brennen an den Fußsohlen, eine Unsicherheit beim Gehen – man denkt zunächst an Durchblutungsprobleme, Müdigkeit oder unbequeme Schuhe. Doch über Wochen oder Monate werden aus diesen unscheinbaren Signalen spürbare Einschränkungen.
Polyneuropathie bedeutet wörtlich: „viele Nervenkrankheiten“. Gemeint ist, dass nicht ein einzelner Nerv betroffen ist, sondern viele Nervenbahnen gleichzeitig. Sie bilden das feine Kommunikationsnetz zwischen Gehirn, Muskeln, Haut und inneren Organen. Wenn dieses Netz gestört wird, können Signale nicht mehr richtig übertragen werden – der Körper verliert ein Stück seiner Sprache. Man fühlt anders, bewegt sich anders, reagiert anders.
Für die Betroffenen bedeutet das oft eine neue, schwierige Wahrnehmung des eigenen Körpers. Was früher selbstverständlich war – barfuß laufen, eine Tasse festhalten, sich auf einen Stuhl setzen, ohne Angst zu stolpern – wird plötzlich zur bewussten Anstrengung. Das Vertrauen in die eigene Beweglichkeit und Sicherheit kann erschüttert werden. Viele berichten, dass sie das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren – nicht über den Willen, sondern über die Leitung zwischen Geist und Körper.
Warum Nerven erkranken – Ursachen und Zusammenhänge
Die Ursachen der Polyneuropathie sind so vielfältig wie das Nervensystem selbst. Am häufigsten steht sie im Zusammenhang mit einer Stoffwechselerkrankung: dem Diabetes mellitus. Dauerhaft erhöhte Blutzuckerwerte greifen die feinen Gefäße an, die die Nerven versorgen, und führen zu einem Mangel an Nährstoffen und Sauerstoff in den Nervenzellen. Mit der Zeit werden diese Zellen geschädigt, verlieren ihre Leitfähigkeit oder sterben ab.
Doch nicht nur Diabetes kann schuld sein. Auch chronischer Alkoholkonsum schädigt die Nerven – sowohl durch direkte toxische Wirkung als auch durch den Mangel an wichtigen Vitaminen, den Alkohol verursacht. Vitamin-B-Mangel (insbesondere B1, B6 und B12) spielt eine zentrale Rolle, weil diese Vitamine am Aufbau und an der Regeneration der Nerven beteiligt sind.
Daneben gibt es entzündliche Formen (zum Beispiel bei Autoimmunerkrankungen wie der Guillain-Barré-Erkrankung), toxische Formen (durch Chemikalien oder bestimmte Medikamente, etwa Chemotherapeutika), und genetisch bedingte Polyneuropathien, die meist schon in jüngeren Jahren auftreten.
Bei einem Teil der Betroffenen bleibt die Ursache unklar – Ärztinnen und Ärzte sprechen dann von einer idiopathischen Polyneuropathie. Das kann belastend sein, weil es keine „greifbare“ Erklärung gibt. Doch auch hier ist die Behandlung möglich: Sie richtet sich nach den Symptomen, um Lebensqualität und Funktion so weit wie möglich zu erhalten.
Ein weiterer, oft unterschätzter Faktor ist die chronische Entzündung. Sie kann bei vielen Stoffwechsel- und Immunerkrankungen auftreten und wirkt wie ein Dauerstress auf das Nervensystem. Ebenso kann eine Medikamentennebenwirkung (zum Beispiel durch bestimmte Antibiotika, Herzmittel oder Chemotherapeutika) den Nerv schädigen – manchmal auch noch Wochen nach Ende der Behandlung.
Wie sich Polyneuropathie anfühlt – das leise Flüstern der Nerven
Die Symptome sind vielfältig und hängen davon ab, welche Nervenfasern betroffen sind. Viele Betroffene berichten von einem seltsamen Gefühl in den Füßen: als wäre der Boden weich oder wattig, als stünde man auf einem Kissen. Andere spüren Brennen, Kribbeln oder elektrische Stöße – Empfindungen, die kommen und gehen oder dauerhaft bleiben.
Typischerweise beginnt die Polyneuropathie in den Füßen und breitet sich langsam auf die Unterschenkel und später auf die Hände aus. Dieses Muster wird oft als „Strumpf-Handschuh-Verteilung“ bezeichnet. Der Grund: Die längsten Nervenfasern des Körpers sind am empfindlichsten und werden zuerst geschädigt.
In fortgeschritteneren Stadien kann es zu Taubheitsgefühlen kommen – einem paradoxen Zustand, in dem man gleichzeitig nichts und zu viel fühlt. Manche Betroffene beschreiben das, als ob ihre Füße „nicht mehr zu ihnen gehören“. Andere leiden unter starken Nervenschmerzen, die als brennend, stechend oder bohrend empfunden werden.
Auch Bewegungsnerven können betroffen sein. Dann fällt das Gehen schwer, die Muskeln werden schwächer, manchmal kommt es zu unwillkürlichen Zuckungen oder Krämpfen. Wer nachts aus dem Bett aufsteht, spürt häufig Unsicherheit oder Gleichgewichtsstörungen – ein Risiko für Stürze.
Wenn schließlich autonome Nerven – also jene, die unbewusst Körperfunktionen steuern – geschädigt werden, kann das Herz-Kreislauf-System, die Verdauung oder die Blasenfunktion betroffen sein. Betroffene berichten dann von Kreislaufproblemen beim Aufstehen, von Magenbeschwerden, Verstopfung oder übermäßigem Schwitzen.
Diese Vielfalt an Symptomen erklärt, warum Polyneuropathie oft spät erkannt wird: Sie kann sich hinter vielen Alltagsbeschwerden verstecken – und doch steckt dahinter immer ein stiller Hilferuf der Nerven.
Wie die Diagnose gestellt wird – der Weg zur Klarheit
Die Diagnose einer Polyneuropathie erfordert Geduld und Genauigkeit. Sie beginnt meist mit einem ausführlichen Gespräch. Ärztinnen und Ärzte fragen, wann die Beschwerden begonnen haben, wie sie sich entwickelt haben und ob bestimmte Krankheiten, Medikamente oder Lebensgewohnheiten vorliegen. Auch scheinbar nebensächliche Hinweise – wie eine frühere Chemotherapie oder Alkoholgewohnheiten – können entscheidend sein.
Es folgt eine körperliche Untersuchung: Reflexe, Muskelkraft, Schmerz-, Temperatur- und Vibrationsempfinden werden getestet. Oft fällt auf, dass Reflexe abgeschwächt sind oder die Vibration einer Stimmgabel an den Knöcheln kaum gespürt wird.
Im nächsten Schritt kommen technische Verfahren zum Einsatz: Die Nervenleitgeschwindigkeit (ENG) misst, wie schnell elektrische Impulse durch die Nerven fließen. Ist sie verlangsamt, liegt meist eine Schädigung der Nervenhülle (Myelin) vor. Die Elektromyographie (EMG) untersucht die elektrische Aktivität der Muskeln und zeigt, ob der Nerv selbst oder die Muskelfaser betroffen ist.
Laboruntersuchungen ergänzen die Diagnose: Blutzucker, Vitaminspiegel, Leber- und Nierenwerte, Schilddrüsenhormone, Entzündungsmarker oder Autoantikörper können Hinweise auf die Ursache liefern. In seltenen Fällen wird eine Nervenbiopsie durchgeführt, um das Ausmaß und die Art der Schädigung mikroskopisch zu untersuchen.
Auch wenn der Diagnoseweg lang erscheinen mag, ist er entscheidend: Denn nur wer weiß, woher die Nervenstörung kommt, kann gezielt behandeln – und Hoffnung auf Besserung haben.
Behandlung und Therapie – zwischen Linderung und Regeneration
Die Behandlung der Polyneuropathie hat zwei Ziele: Ursachen beheben und Symptome lindern. Wenn die Ursache behandelbar ist, kann sich der Verlauf oft deutlich bessern oder stabilisieren.
Bei diabetischer Polyneuropathie steht eine stabile Blutzuckereinstellung im Vordergrund – sie kann das Fortschreiten verlangsamen oder sogar aufhalten. Bei Vitaminmangel helfen gezielte Nahrungsergänzungen oder Injektionen, bei toxischen Ursachen das Meiden des auslösenden Stoffes (etwa Alkohol oder bestimmte Medikamente).
Sind die Ursachen nicht mehr rückgängig zu machen, konzentriert sich die Therapie auf die Linderung der Schmerzen und die Erhaltung der Beweglichkeit. Medikamente wie Gabapentin, Pregabalin, Duloxetin oder Amitriptylin können die Überaktivität der Nerven dämpfen. Auch lokale Cremes mit Capsaicin oder Pflaster mit Lidocain können helfen.
Neben Medikamenten spielt die Physiotherapie eine zentrale Rolle. Sie stärkt Muskeln, Koordination und Gleichgewicht. Übungen mit weichem Untergrund oder Barfußtraining fördern die Wahrnehmung der Füße. Ergotherapie kann helfen, alltägliche Tätigkeiten wieder sicherer zu bewältigen – vom Knöpfen einer Bluse bis zum Gehen auf unebenem Boden.
Auch Entspannungsverfahren wie Yoga, Atemübungen, progressive Muskelentspannung oder Meditation können unterstützend wirken. Sie senken das Stressniveau, verbessern den Schlaf und beeinflussen damit auch die Schmerzwahrnehmung positiv.
Manchmal ist ein interdisziplinärer Ansatz nötig – also die Zusammenarbeit von Neurologie, Schmerzmedizin, Physiotherapie, Ernährungsberatung und Psychologie. Diese ganzheitliche Sichtweise hilft, nicht nur die Krankheit, sondern den Menschen zu behandeln.
Leben mit Polyneuropathie – neue Wege im Alltag finden
Polyneuropathie verändert das Leben, oft still, aber nachhaltig. Das bedeutet nicht, dass es kein gutes Leben mehr geben kann – aber es braucht Anpassung, Geduld und Selbstfürsorge.
Viele Betroffene lernen, ihr Körpergefühl neu zu entdecken. Sie achten stärker auf Pausen, auf bequeme Schuhe, auf das Vermeiden von Kälte oder Druckstellen. Kleine Rituale – ein Fußbad am Abend, Massagen mit warmem Öl, sanftes Dehnen – werden zu wichtigen Momenten des Wohlbefindens.
Bewegung bleibt essenziell. Sie fördert die Durchblutung, aktiviert die Muskulatur und erhält das Gleichgewicht. Spaziergänge, Radfahren oder Wassergymnastik sind schonend und effektiv. Auch eine bewusste Ernährung mit ausreichend Vitaminen, Ballaststoffen und gesunden Fetten kann helfen, die Nerven zu schützen.
Ein großes Thema ist die psychische Belastung. Chronischer Schmerz, Schlafmangel und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, führen oft zu Erschöpfung und Traurigkeit. Gespräche mit Angehörigen, Selbsthilfegruppen oder psychotherapeutische Begleitung können helfen, neue Stärke zu finden.
Viele lernen im Verlauf, dass die Krankheit sie zwar begleitet, aber nicht beherrscht. Es geht darum, wieder Vertrauen in den eigenen Körper zu gewinnen – und zu akzeptieren, dass Heilung nicht immer bedeutet, dass alles wird wie früher, sondern dass man Wege findet, trotz allem weiterzuleben.
Forschung, Fortschritt und neue Hoffnung
Die medizinische Forschung zur Polyneuropathie entwickelt sich stetig weiter. Moderne Ansätze setzen auf Regeneration und Schutz der Nerven. Forscher untersuchen Wachstumsfaktoren, Stammzelltherapien und neue Medikamente, die die Kommunikation zwischen Nervenzellen stabilisieren sollen.
Auch die Schmerzmedizin macht Fortschritte: Individualisierte Kombinationstherapien, elektrische Nervenstimulation (TENS, Spinal Cord Stimulation) und neue Substanzen, die gezielt an Schmerzrezeptoren wirken, eröffnen neue Perspektiven.
Besonders ermutigend ist, dass Betroffene heute viel besser begleitet werden als früher. Die Krankheit wird ernster genommen, es gibt spezialisierte Zentren und umfassende Rehabilitationsprogramme. Und immer häufiger berichten Menschen, dass sie – trotz bleibender Einschränkungen – Wege gefunden haben, wieder Lebensqualität zu empfinden.
Polyneuropathie bedeutet also nicht Stillstand. Sie ist ein Prozess, in dem Körper und Geist lernen, neu miteinander zu sprechen. Und jeder Tag, an dem du dich bewegst, lachst oder einfach einen Moment Ruhe spürst, ist ein Sieg über das Schweigen der Nerven.






