Über einen Körper, der nicht mehr trägt. Über Zweifel, die verletzen. Und über die Einsamkeit, die entsteht, wenn Leid erklärt statt geglaubt wird.
Es gibt einen Moment, den viele Menschen mit Long Covid sehr genau benennen können, auch wenn er sich kaum in Worte fassen lässt.
Es ist nicht der Tag der Infektion. Es ist nicht einmal der Tag, an dem klar wird, dass etwas nicht stimmt.
Es ist der Moment, in dem der Körper aufhört, ein verlässlicher Begleiter zu sein. Nicht dramatisch, nicht mit einem lauten Bruch, sondern schleichend, leise, fast höflich. Die Kraft kommt nicht zurück. Die Erschöpfung bleibt. Gedanken zerfallen, noch bevor sie zu Ende gedacht sind. Der Atem fühlt sich fremd an, als müsste man ihn jedes Mal neu beantragen. Und irgendwann entsteht ein Gefühl, das tiefer reicht als Müdigkeit: das Gefühl, im eigenen Körper nicht mehr sicher zu wohnen.
Long Covid ist kein einzelnes Symptom, kein klar umrissener Defekt, keine sauber definierte Krankheit, die sich ordentlich erklären ließe. Es ist ein Zustand, der sich dem Zugriff entzieht. Ein Zustand, der Körper, Denken, Emotionen und Identität gleichermaßen betrifft. Für Betroffene fühlt es sich oft an, als hätte jemand alle Sicherungssysteme gleichzeitig abgeschaltet. Nichts funktioniert mehr so, wie es einmal war, und nichts lässt sich erzwingen. Wer versucht, dagegen anzukämpfen, verliert. Wer versucht, sich zusammenzureißen, zahlt später einen Preis. Und wer von außen schaut, sieht oft nichts – außer einen Menschen, der „doch eigentlich wieder gesund sein müsste“.
Erschöpfung, die nicht schläft
Die Erschöpfung bei Long Covid ist keine Müdigkeit. Sie ist kein Zustand, der sich durch Schlaf, Pausen oder gute Vorsätze beheben lässt. Sie ist ein tiefgreifender Energieverlust, der den gesamten Organismus betrifft. Viele Betroffene beschreiben sie als bleierne Schwere, als inneren Stillstand, als Gefühl, ständig am Rand der eigenen Belastbarkeit zu leben – oder längst darüber hinaus. Selbst kleine Tätigkeiten, die früher selbstverständlich waren, können zu massiven Verschlechterungen führen. Ein Gespräch. Eine Dusche. Ein kurzer Spaziergang. Dinge, die einmal zum Alltag gehörten, werden zu Risiken.
Besonders quälend ist dabei die Unberechenbarkeit. An einem Tag scheint es ein wenig besser zu gehen, Hoffnung keimt auf, vielleicht vorsichtig, vielleicht zaghaft. Am nächsten Tag folgt der Zusammenbruch. Nicht selten zeitverzögert, als hätte der Körper eine eigene Rechnung zu begleichen. Diese Erfahrung untergräbt jedes Vertrauen in sich selbst. Man lernt, dem eigenen Gefühl nicht mehr zu trauen. Man lernt, vorsichtig zu werden, nicht aus Angst, sondern aus bitterer Erfahrung.
Wenn Denken schwer wird
Neben der körperlichen Erschöpfung tritt oft eine kognitive Veränderung hinzu, die von außen besonders leicht missverstanden wird. Konzentration zerfällt. Worte entgleiten. Gedanken verlieren ihre Ordnung. Das, was häufig als „Brain Fog“ bezeichnet wird, ist für Betroffene keine diffuse Unschärfe, sondern ein massiver Verlust an geistiger Verlässlichkeit. Gespräche werden anstrengend, Lesen wird mühsam, komplexe Zusammenhänge wirken überwältigend. Viele Menschen, die zuvor geistig sehr aktiv waren, erleben diesen Verlust als besonders schmerzhaft. Nicht selten entsteht das Gefühl, einen Teil der eigenen Identität verloren zu haben.
Diese kognitive Erschöpfung wird von außen oft fehlinterpretiert. Als mangelnde Motivation. Als psychische Überforderung. Als Stressreaktion. Doch für Betroffene fühlt sie sich nicht wie ein seelisches Problem an, sondern wie eine funktionelle Störung, die sich dem Willen entzieht. Wer versucht, sich durchzubeißen, scheitert. Nicht aus Schwäche, sondern weil der Körper – inklusive des Gehirns – nicht mehr so arbeitet wie früher.
Die zweite Krankheit: Zweifel von außen
Zu dem körperlichen Leid tritt bei vielen Menschen mit Long Covid eine zweite, oft ebenso belastende Ebene hinzu: der Umgang der Umwelt mit der Erkrankung. Zweifel. Ungeduld. Unverständnis. Gut gemeinte, aber verletzende Kommentare. Oder offene Vorwürfe. Besonders schmerzhaft sind Aussagen, die Schuld zuschreiben. „Selbst schuld.“ „Du bist ja geimpft.“ „Hättest du dich anders verhalten.“ Diese Sätze treffen nicht nur den Verstand, sie treffen die Würde.
Dabei ist die wissenschaftliche Lage klarer, als es in öffentlichen Debatten oft dargestellt wird. Long Covid tritt unabhängig vom Impfstatus auf. Impfungen reduzieren nachweislich das Risiko schwerer Verläufe und senken auch die Wahrscheinlichkeit von Long Covid, schließen es aber nicht aus. Die Behauptung, Long Covid sei eine Folge der Impfung oder Ausdruck individueller Fehlentscheidungen, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Sie ist nicht nur falsch, sie ist gefährlich, weil sie Betroffene stigmatisiert und isoliert.
Doch Fakten allein reichen nicht aus, um diese Vorwürfe zu entkräften. Denn häufig geht es nicht um Erkenntnis, sondern um Weltbilder. Verschwörungserzählungen funktionieren nicht nach den Regeln der Wissenschaft. Sie leben von Abgrenzung, von Identität, von dem Gefühl, zu den wenigen „Erwachten“ zu gehören. Betroffene werden in diesem System nicht als leidende Menschen wahrgenommen, sondern als Projektionsfläche. Ihr Leiden wird instrumentalisiert, relativiert oder geleugnet, um das eigene Narrativ zu stabilisieren.
Allein unter Menschen
Für viele Menschen mit Long Covid entsteht so eine tiefe soziale Einsamkeit. Nicht, weil niemand da wäre, sondern weil das, was man erlebt, keinen Raum bekommt. Gespräche werden anstrengend. Man überlegt, was man erzählt und was man lieber verschweigt. Man spürt, dass Geduld schwindet. Dass Nachfragen seltener werden. Dass Erwartungen wachsen, wieder „funktionieren“ zu sollen. Nicht selten ziehen sich Betroffene zurück, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Selbstschutz.
Diese Einsamkeit ist besonders schmerzhaft, weil sie dort entsteht, wo eigentlich Unterstützung sein sollte. In Familien. In Freundschaften. Im beruflichen Umfeld. Angehörige geraten dabei selbst in einen inneren Konflikt. Sie sehen das Leid, wollen helfen, stoßen aber an Grenzen. Auch sie müssen Abschied nehmen von einem Bild, das sie vom betroffenen Menschen hatten. Auch sie erleben Ohnmacht, Hilflosigkeit, manchmal Überforderung. Long Covid betrifft nie nur eine Person. Es verändert ganze Beziehungsgeflechte.
Der Verlust von Rolle und Identität
Arbeit, Alltag, soziale Rollen – all das gibt dem Leben Struktur und Sinn. Long Covid greift tief in diese Bereiche ein. Viele Betroffene können nicht mehr arbeiten oder nur sehr eingeschränkt. Das bedeutet nicht nur finanzielle Sorgen, sondern auch einen massiven Identitätsverlust. Wer bin ich, wenn ich nicht mehr leisten kann? Wenn ich nicht mehr zuverlässig bin? Wenn mein Beitrag plötzlich infrage steht?
Diese Fragen sind nicht oberflächlich. Sie gehen an den Kern dessen, wie wir uns selbst verstehen. In einer Gesellschaft, die Leistung, Produktivität und Belastbarkeit hoch bewertet, geraten Menschen mit Long Covid schnell in einen Rechtfertigungsmodus. Sie erklären, relativieren, entschuldigen sich. Dabei bräuchten sie etwas anderes: Anerkennung des Leids, ohne Bedingungen. Verständnis, ohne Erwartungshaltung. Geduld, ohne Misstrauen.
Medizin zwischen Wissen und Lücke
Auch im medizinischen System erleben viele Betroffene eine Ambivalenz. Auf der einen Seite wächst das wissenschaftliche Verständnis für Long Covid stetig. Studien, Leitlinien, interdisziplinäre Ansätze entstehen. Auf der anderen Seite bleibt die Versorgung oft lückenhaft. Diagnostik ist komplex. Therapien sind begrenzt. Viele Symptome lassen sich schwer objektivieren. Das führt nicht selten zu Frustration auf beiden Seiten – bei Ärzten wie bei Patienten.
Besonders belastend ist es, wenn Betroffene das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden. Wenn Symptome vorschnell psychologisiert werden. Wenn der Eindruck entsteht, man müsse beweisen, dass das Leid real ist. Dabei schließen sich körperliche und psychische Aspekte nicht aus. Chronische Erkrankungen belasten immer auch seelisch. Doch die psychischen Folgen sind nicht die Ursache, sondern die Konsequenz eines Körpers, der dauerhaft im Ausnahmezustand lebt.
Schuld als falsche Ordnung
Der Drang, Schuld zuzuweisen, ist menschlich. Er schafft scheinbare Ordnung in einer komplexen Welt. Wenn jemand selbst schuld ist, bleibt die Illusion von Kontrolle erhalten. Long Covid stellt diese Illusion infrage. Die Erkrankung zeigt, wie verletzlich der menschliche Körper ist, wie begrenzt medizinisches Wissen sein kann, wie wenig sich alles absichern lässt. Für manche ist das schwer auszuhalten. Also suchen sie einfache Erklärungen. Schuldzuweisungen. Klare Täter-Opfer-Zuschreibungen.
Für Betroffene ist diese Dynamik zutiefst verletzend. Sie verschiebt den Fokus vom Leid auf die vermeintliche Verantwortung. Sie nimmt dem Schmerz seine Legitimität. Sie macht krankes Sein zu einem moralischen Problem. Dabei braucht es etwas anderes: die Anerkennung, dass Krankheit keine Frage von Schuld ist. Dass sie geschieht. Unabhängig von Lebensstil, Entscheidungen oder Weltanschauungen.
Hoffnung ohne Versprechen
Trotz all der Schwere gibt es auch in der Erfahrung von Long Covid Momente der Hoffnung. Nicht als großes Versprechen, nicht als schnelle Lösung, sondern als leise Bewegung. Kleine Verbesserungen. Phasen der Stabilisierung. Das langsame Wiederentdecken von Grenzen, die respektiert werden können. Hoffnung bei Long Covid ist vorsichtig. Sie weiß um Rückschläge. Sie verlangt Geduld. Sie lebt nicht von großen Zielen, sondern von dem Wunsch nach ein wenig mehr Verlässlichkeit.
Diese Hoffnung braucht Zeit. Und sie braucht ein Umfeld, das sie nicht zerstört. Angehörige, die lernen, zuzuhören, ohne zu drängen. Ein medizinisches System, das begleitet, auch wenn es nicht alles heilen kann. Eine Gesellschaft, die aufhört, Leid zu bewerten, und anfängt, es auszuhalten.
Wenn gar nichts mehr geht – und trotzdem weitergelebt wird
Der Satz „wenn gar nichts mehr geht“ beschreibt nicht das Ende. Er beschreibt einen Zustand. Einen Zustand, in dem alte Strategien versagen. In dem Durchhalten nicht mehr hilft. In dem Akzeptanz kein Aufgeben ist, sondern ein Überlebensmodus. Viele Menschen mit Long Covid entwickeln eine neue Form von Stärke, die nichts mit Leistung zu tun hat. Eine Stärke, die darin besteht, Grenzen zu achten, auch wenn sie schmerzen. Eine Stärke, die leise ist, aber tief.
Für Angehörige bedeutet das, Abschied zu nehmen von Erwartungen, ohne die Beziehung zu verlieren. Für die Gesellschaft bedeutet es, zuzuhören, auch wenn es unbequem ist. Für alle bedeutet es, Krankheit nicht als moralische Kategorie zu behandeln, sondern als menschliche Erfahrung.
Long Covid ist real. Das Leid ist real. Die Vorwürfe sind es nicht. Wer das versteht, hat vielleicht keine Antworten – aber etwas Wichtigeres: Mitgefühl. Und manchmal ist genau das der Anfang von etwas, das trägt.
Quellen, Leitinien & Studien
- Balint, E., Feng, E., Giles, E. C., Ritchie, T. M., Qian, A. S., Vahedi, F., Montemarano, A., Portillo, A. L., Monteiro, J. K., Trigatti, B. L., Ashkar, A. A., et al. (2024). Bystander activated CD8+ T cells mediate neuropathology during viral infection via antigen-independent cytotoxicity. Nature Communications, 15, Article 896. https://doi.org/10.1038/s41467-023-44667-0
- S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP): S1-Leitlinie Long-/Post-COVID. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 020/027: register.awmf.org (Stand: 03/2023, Abruf: 07.02.2024)
- Online-Informationen des Pschyrembel: Long Covid: pschyrembel.de (Abruf: 07.02.2024)
- Douaud, G., Lee, S., Alfaro-Almagro, F., Arthofer, C., Wang, C., McCarthy, P., Lange, F., Andersson, J. L. R., Griffanti, L., Duff, E., Jbabdi, S., Taschler, B., Keating, P., Winkler, A. M., Collins, R., Matthews, P. M., Allen, N., Miller, K. L., Nichols, T. E., Smith, S. M., & weitere Autoren. (2022). SARS-CoV-2 is associated with changes in brain structure in UK Biobank. Nature, 604, 697–707. https://doi.org/10.1038/s41586-022-04569-5
- Chris Greene, Ruairi Connolly, Declan Brennan, Aoife Laffan, Eoin O’Keeffe, Lilia Zaporojan, Jeffrey O’Callaghan, Bennett Thomson, Emma Connolly, Ruth Argue, Ignacio Martin-Loeches, Aideen Long, Cliona Ni Cheallaigh, Niall Conlon, Colin P. Doherty & Matthew Campbell. Blood–brain barrier disruption and sustained systemic inflammation in individuals with long COVID-associated cognitive impairment. Nature Neuroscience






