Polyneuropathie verändert nicht nur Nervenleitbahnen, sie verändert den Rhythmus deines ganzen Lebens. Für viele beginnt das genau in dem Moment, in dem eigentlich alles leichter werden sollte: am Abend, wenn der Tag endet, die Wohnung leiser wird und der Körper nach Ruhe verlangt.
Du hast vielleicht gearbeitet, dich durch Aufgaben und Gespräche gekämpft, bist mit Schmerzen durch den Tag gegangen und hast dich immer wieder zusammengerissen. In dir ist die Sehnsucht nach einem simplen, scheinbar selbstverständlichen Wunsch: einfach schlafen, einmal wirklich abschalten, einmal aufwachen und das Gefühl haben, der Körper habe sich regeneriert.
Stattdessen legst du dich hin und erlebst, wie der Körper einen anderen Plan verfolgt. Das Brennen in den Füßen flammt plötzlich auf, obwohl du nichts tust. Ein Ziehen in den Waden, ein Kribbeln in den Zehen, eine Mischung aus Taubheit und Überempfindlichkeit in den Fußsohlen – all das wird im Liegen deutlicher. Du bewegst die Beine hin und her, suchst diese eine Position, in der das Brennen minimal ist. Du ziehst die Decke über die Füße, nimmst sie wieder weg, legst vielleicht ein Kissen unter die Unterschenkel, setzt dich auf, stehst auf, gehst ein paar Schritte. Und während du all das tust, läuft im Hintergrund eine innere Uhr mit, die dir jede verstrichene Minute anzeigt, die dir Schlaf stiehlt. Polyneuropathie wird in diesen Momenten nicht nur zu einer neurologischen Diagnose, sondern zu einer Kraft, die dir etwas zutiefst Menschliches nimmt: das Vertrauen, dass du in der Nacht Geborgenheit findest.
Warum Schmerzen und Brennen abends und nachts oft lauter werden
Dass Schmerzen, Brennen und Missempfindungen in den Abendstunden und in der Nacht intensiver wirken, ist kein Zufall und schon gar kein Zeichen von „Einbildung“. Tagsüber ist dein Nervensystem damit beschäftigt, eine Flut von Reizen zu verarbeiten. Geräusche, Stimmen, Arbeitsanforderungen, Bildschirmlicht, Verkehr, Termine, Nachrichten – alles strömt gleichzeitig auf dich ein. Dein Gehirn sortiert ununterbrochen, schiebt Eindrücke nach vorne, andere nach hinten, entscheidet, was dringend ist und was im Hintergrund bleiben kann. In dieser permanenten Aktivität werden Schmerzen und Kribbeln zwar gespürt, aber sie teilen sich den inneren Raum mit vielen anderen Eindrücken. Manchmal verschwimmen sie zu einem Hintergrundrauschen, das du zwar bemerkst, aber zeitweise übergehen kannst, weil die Anforderungen des Tages dich zwingen, dich auf anderes zu konzentrieren.
Wenn der Abend kommt, ändert sich diese Landschaft. Die Geräuschkulisse wird leiser, das Licht zurückhaltender, die Termindichte bricht ab. Die äußere Welt zieht sich ein Stück zurück – und genau in diesen freigewordenen inneren Raum drängt der Schmerz. Das, was tagsüber nebenbei mitlief, steht plötzlich im Zentrum. Du liegst im Bett, um dich herum ist Stille, und in dieser Stille beginnen deine Nerven, sich in den Vordergrund zu schieben. Das Brennen, das vorher noch gedämpft wirkte, fühlt sich nun klarer und schärfer an. Das Kribbeln ist nicht mehr nur „nebenbei“, sondern dominiert deine Wahrnehmung. Das Taubheitsgefühl wird nicht weniger, sondern bekommt plötzlich Konturen, weil es in Kontrast zur sonstigen Ruhe steht.
Dazu kommt, dass dein Körper einem inneren Takt folgt, den du nicht bewusst steuerst. Blutdruck, Puls, Temperatur, Hormonspiegel – all das verändert sich zwischen Tag und Nacht. Für gesunde Nerven bleibt das im Hintergrund. Für vorgeschädigte Nerven kann schon eine veränderte Durchblutung oder ein leicht anderer Temperaturzustand reichen, um sie empfindlicher zu machen. Es ist, als wären die Nervenenden abends dünnhäutiger und leichter erregbar. Das Nervensystem, das ohnehin irritiert ist, reagiert auf diese verschobenen Bedingungen mit verstärkten Signalen.
Parallel laufen in dir seelische Prozesse ab. Am Tag bist du im Funktionsmodus. Du konzentrierst dich aufs Abarbeiten, aufs Durchhalten, auf das, was „jetzt eben getan werden muss“. Viele Gedanken, die dir Angst machen oder dich traurig stimmen, schiebst du beiseite, weil kein Raum dafür ist. Am Abend, wenn äußerlich Ruhe einkehrt, haben diese Gedanken plötzlich Gelegenheit, sich zu melden. Du erinnerst dich an ärztliche Gespräche, an Prognosen, an Formulierungen, die dir Sorge bereitet haben. Du denkst an die Zukunft, daran, was du vielleicht nicht mehr kannst oder verlieren könntest. Diese inneren Bewegungen bleiben nicht im Kopf isoliert, sie übersetzen sich in Anspannung im Körper. Und ein angespannter Körper nimmt Schmerzen stärker wahr. So entsteht ein Zusammenspiel aus weniger Ablenkung, körperlichen Rhythmen und seelischer Belastung, das dazu führt, dass die Nächte sich schärfer, härter und schmerzhafter anfühlen als die Tage.
Wenn der Schlaf nicht mehr Zuflucht ist, sondern zu einem Kampffeld wird
Schlaf ist für gesunde Menschen etwas, das man selten bewusst hinterfragt. Man legt sich hin, ist vielleicht noch ein wenig unruhig, schläft ein, wacht morgens auf und fühlt sich zumindest halbwegs erholt. Für dich kann Schlaf mit Polyneuropathie zu etwas werden, das geplant, erhofft, erkämpft und doch immer wieder verfehlt wird.
Das Einschlafen, das einmal selbstverständlich war, wird zu einer Art Projekt. Du liegst im Bett, vielleicht mit einem festen Ritual, weil du weißt, dass es ohne nicht geht. Du atmest bewusst langsamer, versuchst, die Schultern zu entspannen, den Kiefer zu lockern. Doch in dem Moment, in dem du spürst, wie du innerlich ein wenig absinkst, meldet sich das Brennen in den Füßen wieder. Es ist, als würde jemand in deinem Nervensystem einen Hebel umlegen: Kaum versuchst du loszulassen, werden die Signale stärker. Du wirst wieder wacher, der Körper spannt sich an, der Kopf beginnt erneut zu arbeiten.
Vielleicht gelingt es dir irgendwann, trotzdem einzuschlafen. Dann ist der Schlaf aber selten tief und durchgehend. Du wachst nach kurzer Zeit wieder auf, weil ein Fuß sticht, ein Unterschenkel zieht, eine taube Stelle sich plötzlich wie unter Strom anfühlt. Du brauchst einen Moment, um zu begreifen, wo du bist, und bemerkst gleichzeitig, dass sich an deiner Lage nichts geändert hat: Du bist müde, du bist erschöpft, du brauchst Schlaf, aber dein Körper lässt ihn nicht zu. Manchmal stehst du auf, läufst in der Wohnung hin und her, massierst deine Füße, setzt dich ans Fenster, atmest die kalte Luft, um überhaupt einen anderen Reiz zu haben als nur diesen Schmerz. Danach legst du dich wieder hin, mit der Hoffnung, dass der Körper jetzt endlich nachgeben möge.
Viele beschreiben, dass der eigentliche Tiefschlaf, wenn es ihn überhaupt gibt, erst in den frühen Morgenstunden kommt. Vielleicht gegen vier oder fünf Uhr morgens, wenn der Körper vollkommen erschöpft ist und sich gegen das Abschalten nicht mehr wehren kann. Doch gerade dann rückt der neue Tag schon heran. Der Wecker, die Arbeit, die Familie, Termine – all das wartet bereits, während du im Grunde das Gefühl hast, gerade erst überhaupt ein bisschen Schlaf erhascht zu haben. So gehst du in den Tag, ohne dass die Nacht ihre eigentliche Aufgabe erfüllen konnte.
Mit der Zeit hinterlassen solche Nächte tiefe Spuren. Nicht nur als Müdigkeit, sondern als Erfahrung, dass Schlaf kein sicherer Hafen mehr ist. Der Ort, an dem du dich regenerieren solltest, ist zum Ort geworden, an dem du weiterkämpfst. Das Vertrauen in eine verlässliche Erholung bröckelt, und damit gerät ein Fundament ins Wanken, auf dem bisher dein ganzes Leben stand.
Die Erschöpfung am Tag – wenn du funktionierst, statt zu leben
Am Morgen begegnet dir dein eigener Körper wie jemand, der viel zu viel von dir verlangt hat. Du wachst auf und fühlst sofort, dass das, was in der Nacht passiert ist, nicht nur „ein schlechter Schlaf“ war, sondern eine weitere Schicht Erschöpfung auf etwas, das ohnehin schon am Limit ist. Es gibt dieses bestimmte Gefühl, wenn du schon beim ersten Aufrichten aus dem Bett merkst: Heute starte ich nicht bei null, sondern weit im Minus. Diese innere Bilanz, die du vielleicht gar nicht bewusst formulierst, begleitet dich durch den Tag.
Die alltäglichen Handlungen, die früher wie von selbst liefen, werden zu bewussten Entscheidungen. Duschen, anziehen, frühstücken, die Wohnung verlassen – jeder Schritt muss durch einen Körper hindurch, der sich schwer und verbraucht anfühlt. Du weißt, dass du deinen Tag irgendwie organisieren musst, aber du spürst gleichzeitig, dass deine Energie nicht reicht, um alles abzudecken. In dir beginnt ein leiser, aber ständiger Verteilungsprozess: Wofür reicht es heute? Was kann ich streichen? Wo muss ich ein „Nein“ riskieren, obwohl andere vielleicht ein „Ja“ erwarten?
Konzentration fühlt sich anders an als früher. Du sitzt bei der Arbeit, im Gespräch oder beim Lesen und merkst, dass dein Kopf langsamer geworden ist. Gedanken sind zäh, Informationen rutschen weg, du musst Sätze zweimal lesen oder dir Dinge aufschreiben, die früher selbstverständlich abrufbar waren. Gleichzeitig steigert die Erschöpfung deine Reizempfindlichkeit. Laute Geräusche, hektische Gespräche, spontane Änderungen im Ablauf – das alles trifft auf ein Nervensystem, das ohnehin überlastet ist. Du reagierst schneller genervt, bist innerlich labiler, spürst, wie dünn deine emotionale Haut geworden ist.
Besonders schwer wiegt, dass du dich innerlich mit deinem „früheren Ich“ vergleichst. Du erinnerst dich an Zeiten, in denen du nach einem langen Arbeitstag noch spontan Freunde getroffen oder Sport gemacht hast, an Wochenenden, die du vollgepackt hast mit Aktivitäten. Heute planst du oft eher, wie du den Tag so gestalten kannst, dass du ihn überhaupt schaffst. Du sagst Dinge ab, die dir eigentlich Freude gemacht hätten, nicht, weil du keine Lust hast, sondern weil dein Körper dir klar signalisiert, dass es zu viel wäre. Dieser Abstand zwischen dem, wer du einmal warst, und dem, wer du jetzt im Alltag sein kannst, kann weh tun. Er fühlt sich manchmal an wie ein stiller Abschied von einer Version deiner selbst, die dir sehr wichtig war.
In diesem Spannungsfeld entsteht eine emotionale Belastung, die schwer zu greifen ist. Du bist einerseits stolz darauf, dass du es schaffst, trotzdem aufzustehen, zu funktionieren, Aufgaben zu erledigen. Andererseits spürst du, dass du nicht wirklich „lebst“, sondern häufig nur noch versuchst, den Tag zu überstehen. Momente, die eigentlich schön sind – ein Treffen mit Freunden, ein Spaziergang, ein Familienessen – tragen den Beigeschmack, dass du sie mit Mühe möglich machst und danach oft noch erschöpfter bist als vorher. Freude ist da, aber sie steht auf einer wackeligen Bühne aus Müdigkeit und Schmerz.
Wenn dann von außen Sätze kommen wie „du bist aber heute wieder müde“ oder „du musst einfach mal richtig ausschlafen“, trifft dich das auf einer tiefen Ebene. Nicht, weil du empfindlich wärst, sondern weil es genau an dem Punkt rührt, den niemand sehen kann: Du versuchst seit langer Zeit, trotz allem weiterzugehen, und bekommst gleichzeitig das Gefühl vermittelt, das reiche irgendwie nicht, oder du würdest nicht genug tun, um dich zu „erholen“. Das kann zu einem inneren Dialog führen, in dem du dich selbst hart beurteilst. Du fragst dich, ob du mehr leisten müsstest, ob du dich anstellst, ob du andere enttäuschst. Aus einer körperlichen Erschöpfung wird so immer stärker eine seelische – eine Müdigkeit, die nicht nur in den Muskeln sitzt, sondern in deinem Selbstbild, in deiner Hoffnung, in deinem Vertrauen in dich selbst.
Die Angst vor der Nacht und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden
Mit jeder Nacht, in der du kämpfst statt schläfst, verändert sich auch dein Blick auf den kommenden Abend. Die Nacht ist nicht einfach nur ein weiterer Abschnitt des Tages, sie wird zu einer Art Prüfung, von der du nicht weißt, wie hart sie diesmal wird. Manchmal beginnt diese Sorge schon am Vormittag, manchmal schleicht sie sich am Nachmittag ein, manchmal spürst du sie ganz bewusst am frühen Abend. Es ist dieser Moment, in dem dir klar wird: Heute werde ich wieder an den Punkt kommen, an dem ich im Bett liege und nicht weiß, ob mein Körper mir Schlaf gönnt oder nicht.
Diese Erwartung kann eine eigene Form von Anspannung erzeugen. Du sitzt vielleicht am Esstisch, schaust Fernsehen, liest oder scrollst auf dem Handy, und im Hintergrund läuft eine stille innere Stimme, die fragt: Wie schlimm wird es heute? Werde ich überhaupt in einen Schlaf kommen, der den Namen verdient? Werde ich wieder jede Stunde auf der Uhr sehen? Werde ich es morgen durch den Tag schaffen oder nur noch funktionieren? Allein diese Fragen reichen aus, um dein Nervensystem spürbar zu aktivieren. Der Körper rüstet sich innerlich für eine Bedrohung – und genau das erschwert später den Übergang in den Schlaf.
Um dieser Angst auszuweichen, suchst du nach Strategien, sie zu überdecken. Vielleicht bleibst du länger wach, als es gut wäre, weil du den Gang ins Bett hinauszögern willst. Du schaust noch eine Folge mehr, liest Nachrichten, tust „noch schnell“ etwas am Computer, isst spät, um dich irgendwie zu beschäftigen. In gewisser Weise ist das verständlich: Der Moment, in dem du das Licht ausmachst und nur noch du, dein Körper und der Schmerz übrig bleiben, ist ein Moment, vor dem man sich fürchten kann. Gleichzeitig weißt du, dass genau diese Überreizung am Abend den Schlaf noch weiter in die Ferne rückt. So sitzt du in einer inneren Falle: Du brauchst Ruhe und Schlaf, aber du fürchtest genau die Situation, in der du versuchen musst zu schlafen.
Hinzu kommt die Einsamkeit dieser Stunden. Schmerzen am Tag kannst du manchmal teilen. Du kannst jemandem sagen: „Heute ist es schlimm“, du kannst dich hinsetzen, stöhnen, die Stirn reiben, und jemand sieht dich. Nachts hingegen, wenn alle anderen schlafen, bist du mit deinem Körper allein. Wenn du zum dritten Mal aufstehst, ins Bad gehst, kaltes Wasser über Füße oder Hände laufen lässt, wenn du im Halbdunkel die Wohnung auf- und abläufst, um die Beine zu beruhigen, wenn du wieder ins Bett gehst und spürst, dass sich nichts wirklich geändert hat – dann bist du die einzige Person, die diesen Kampf miterlebt. Oft gibt es keinen Zeugen, keine Worte, keine unmittelbare Reaktion von außen.
Am nächsten Morgen ist das, was in der Nacht passiert ist, unsichtbar. Vielleicht erwähnst du, dass du schlecht geschlafen hast. Vielleicht sagst du, dass die Schmerzen wieder stark waren. Für viele Menschen klingt das wie eine vorübergehende Störung, wie eine Nacht, die halt mal „nicht gut“ war. Sie denken an Situationen, in denen sie selbst unruhig waren und dann am nächsten Tag trotzdem wieder „fit“ waren. Dass deine Nächte sich wiederholen, dass es ein Muster ist, dass es nicht um „gelegentlich schlecht geschlafen“ geht, sondern um eine dauerhafte Unterbrechung deiner Erholungsfähigkeit, bleibt oft unbemerkt.
Hier entsteht das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Du weißt, was du in der Nacht durchgestanden hast, und spürst, wie sehr es dich am Tag beeinträchtigt. Wenn dir dann jemand sagt, du solltest früher ins Bett gehen, mehr Entspannung einbauen oder „nicht so viel darüber nachdenken“, wirkt das, als würde dein Erleben reduziert auf etwas, das du mit ein paar Verhaltenstipps in den Griff bekommen könntest. Das trifft dich dort, wo du ohnehin verwundbar bist: in deinem Bedürfnis, dass jemand versteht, wie schwer es wirklich ist.
Mit der Zeit kann dieses wiederholte Nicht-Verstanden-Werden dazu führen, dass du weniger erzählst. Du denkst dir, es versteht ja doch niemand, und verschweigst, wie schlimm die Nächte waren. Du lächelst häufiger, als dir zumute ist, und sagst, „es geht schon“, obwohl es in Wahrheit kaum geht. Damit verstärkt sich die Unsichtbarkeit deines Leidens. Nach außen wirkst du stabiler, als du dich fühlst, und das Umfeld übernimmt dieses Bild. Für andere bist du jemand, der „halt Schmerzen“ hat, aber „ganz gut zurechtkommt“. Du selbst weißt, dass dieses Bild nur einen Teil deiner Realität zeigt.
Diese Kombination – die konkrete Angst vor jeder kommenden Nacht und das wiederholte Erleben, mit dieser Angst und den Folgen allein zu sein – ist psychisch extrem belastend. Sie kann zu innerer Verhärtung führen, zu Bitterkeit, aber auch zu einer leisen, tiefen Traurigkeit, die kaum Worte findet. Du trägst diesen Teil deines Lebens wie ein Geheimnis mit dir, nicht weil du es verbergen willst, sondern weil es kaum jemanden gibt, der wirklich zuhört, ohne zu relativieren.
Wichtig ist, dass du dir selbst bewusst machst: Diese Angst und dieses Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, sind keine Überreaktionen. Sie sind eine nachvollziehbare Antwort auf eine Situation, in der dir etwas Fundamentales immer wieder entzogen wird – erholsamer Schlaf – und in der deine Anstrengungen, damit zu leben, zu wenig gesehen werden.
Wege, die Last zu teilen – und dein Recht auf Unterstützung
Auch wenn der Weg sich oft einsam anfühlt: Du musst die Kombination aus nächtlichen Schmerzen, Schlaflosigkeit, Tageserschöpfung und innerer Angst nicht einfach stumm ertragen. Es gibt kein Wunderrezept, aber du hast ein Recht darauf, dass deine Situation ernst genommen wird – medizinisch, psychisch und im Alltag.
Ein wichtiger Schritt ist, im ärztlichen Gespräch die Nächte nicht am Rand zu erwähnen, sondern sie bewusst in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn du beschreibst, wie lange du abends wachliegst, wie häufig du in der Nacht aufwachst, wie sich deine Schmerzen im Dunkeln anfühlen und wie du dich am Tag danach erlebst, machst du sichtbar, dass es nicht um eine kleine Nebensymptomatik geht, sondern um einen Kern deiner Belastung. So können Ärztinnen und Ärzte eher einschätzen, ob eine Anpassung der Schmerzmedikation, eine andere Verteilung der Einnahmezeiten, zusätzliche schlafunterstützende Maßnahmen oder eine Überweisung in eine Schmerz- oder Schlafambulanz sinnvoll sind.
Genauso legitim ist es, Unterstützung für deine seelische Belastung zu suchen. Psychotherapeutische Begleitung, Beratungsangebote, Achtsamkeits- oder Entspannungsverfahren können dir nicht den Schmerz nehmen, aber sie können dir helfen, mit der Angst vor der Nacht, mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins und mit der Erfahrung des Nicht-Gesehen-Werdens besser umzugehen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sich in einer Situation wie deiner Hilfe zu holen – es ist eine Form von Verantwortung dir selbst gegenüber.
Im Alltag mit Menschen, die dir nahe stehen, kann es hilfreich sein, sehr einfache, aber klare Sätze zu finden, die dein Erleben ausdrücken, ohne dich zu sehr zu entblößen. Zum Beispiel, indem du sagst, dass deine Nächte oft kaum Erholung bringen und dass deine Müdigkeit nicht nach einer langen Feier kommt, sondern nach einer Nacht, in der du stundenlang wach lagst. Manchmal brauchen Menschen, die keine Polyneuropathie haben, diese Art von Bildern, um überhaupt ansatzweise zu verstehen, worum es geht.
Du bist nicht zu schwach – du trägst mehr, als andere je sehen werden
Vielleicht ist es gerade jetzt wichtig, dir noch einmal bewusst zu machen: Du bist nicht schwach, nicht faul, nicht „zu empfindlich“. Dass du Angst vor der Nacht hast, dass du tagsüber nur noch im Funktionsmodus unterwegs bist, dass du dich nicht verstanden fühlst – all das sind nachvollziehbare Reaktionen auf eine Situation, die dich körperlich und seelisch permanent überfordert.
Was du leistest, wenn du mit Polyneuropathie, mit nächtlichen Schmerzen, mit immer wieder zerrissenem Schlaf und mit einer tiefen Erschöpfung trotzdem jeden Tag aufstehst und versuchst, deinen Alltag zu bewältigen, geht weit über das hinaus, was Außenstehende wahrnehmen. Viele würden unter dieser Last längst zusammenbrechen. Dass du weitergehst, ist kein Zeichen von Verdrängung, sondern von enormer Stärke – auch dann, wenn du selbst diese Stärke nicht immer spürst.
Du darfst deine Beschwerden ernst nehmen, ohne dich zu rechtfertigen. Du darfst dir Unterstützung wünschen und sie einfordern. Du darfst Grenzen setzen, wenn dein Körper und deine Seele sie brauchen. Und du darfst hoffen, dass sich mit der Zeit, mit der richtigen Kombination aus medizinischer Behandlung, seelischer Unterstützung und alltagspraktischen Anpassungen etwas verändert – vielleicht nicht von heute auf morgen, aber Schritt für Schritt.
Jede Nacht, in der du ein kleines bisschen mehr Ruhe findest, und jeder Tag, an dem du dich ein wenig weniger unsichtbar fühlst, sind wichtige Fortschritte. Sie mögen für andere unauffällig wirken, für dich sind sie kostbare Etappen auf einem Weg, der schwer ist – und den du trotzdem gehst.






