Ein Medikament mit großer Wirkung, aber auch mit Verantwortung
Esketamin ist eine der bedeutendsten Entwicklungen in der modernen Behandlung therapieresistenter Depressionen. Für viele Menschen, die jahrelang in der Dunkelheit der Krankheit gefangen waren, bietet es eine neue Perspektive – eine Hoffnung, wenn andere Mittel versagt haben. Doch jede wirksame Therapie bringt auch Nebenwirkungen mit sich, und Esketamin ist dabei keine Ausnahme.
Die Wirkung dieses Medikaments setzt schnell ein und verändert innerhalb kurzer Zeit die Hirnchemie. Doch diese schnelle Wirkung kann auch dazu führen, dass der Körper und der Geist mit ungewohnten Reaktionen antworten. Manche dieser Effekte sind mild und vorübergehend, andere können intensiver sein und erfordern eine engmaschige Überwachung. Wichtig ist es, die möglichen Nebenwirkungen nicht nur als Risiken zu sehen, sondern als Teil der therapeutischen Erfahrung – als etwas, das unter kontrollierten Bedingungen verstanden und begleitet werden kann.
Dissoziative Symptome – Wenn die Wahrnehmung sich verändert
Eine der auffälligsten und häufigsten Nebenwirkungen von Esketamin sind sogenannte dissoziative Symptome. Patienten berichten oft, dass sie sich für eine gewisse Zeit von sich selbst oder ihrer Umgebung losgelöst fühlen. Manche beschreiben es als ein Gefühl des Schwebens, als würden sie sich außerhalb ihres Körpers befinden oder als ob ihre Gedanken sich von ihnen entfernen.
Während einige diese Erfahrung als angenehm und befreiend empfinden, kann sie für andere befremdlich oder beängstigend sein. Besonders beim ersten Mal kann es ungewohnt sein, sich plötzlich anders wahrzunehmen oder die Umwelt als verzerrt zu erleben. Dennoch ist es wichtig zu wissen, dass diese Symptome vorübergehend sind. Sie klingen in der Regel innerhalb von ein bis zwei Stunden ab, wenn die Hauptwirkung des Medikaments nachlässt.
Für viele Patienten ist dieser Zustand kein Hindernis, sondern ein Teil der therapeutischen Wirkung. Er kann dazu beitragen, sich von alten Denkmustern zu lösen und für einen Moment Abstand von den eigenen Problemen zu gewinnen. Dennoch bleibt es eine Herausforderung, insbesondere für Menschen, die zuvor keine Erfahrung mit veränderten Bewusstseinszuständen gemacht haben.
Schwindel und Übelkeit – Der Körper passt sich an
Nach der Verabreichung von Esketamin kann es in den ersten Minuten zu einem leichten Schwindelgefühl oder Übelkeit kommen. Dies liegt unter anderem daran, dass das Medikament den Blutdruck kurzfristig beeinflusst und die Wahrnehmung verändert.
Viele Patienten berichten, dass sie sich während der ersten 30 bis 60 Minuten etwas benommen oder instabil fühlen. In manchen Fällen tritt auch ein leichtes Unwohlsein auf, ähnlich wie bei einer leichten Reisekrankheit. Deshalb wird Esketamin ausschließlich unter ärztlicher Aufsicht verabreicht. Das medizinische Team kann im Bedarfsfall unterstützend eingreifen, etwa durch eine ruhige Umgebung, langsame Bewegungen oder in seltenen Fällen durch die Gabe von Medikamenten gegen Übelkeit.
Diese Nebenwirkungen sind in der Regel vorübergehend und klingen meist innerhalb der Beobachtungszeit wieder ab. Dennoch kann es hilfreich sein, sich nach der Behandlung auszuruhen und dem Körper Zeit zu geben, sich an die veränderte Hirnaktivität anzupassen.
Was tun, wenn der Blutdruck trotz Behandlung hoch bleibt?
Wenn der Blutdruck nach der Esketamin-Behandlung weiterhin auf einem kritischen Niveau bleibt und nicht wie erwartet absinkt, ist es besonders wichtig, weitere Maßnahmen zu ergreifen. Ein dauerhaft erhöhter Blutdruck kann das Herz, die Gefäße und andere Organe belasten, weshalb schnelles und gezieltes Handeln notwendig ist.
Erweiterte medizinische Maßnahmen
Falls der Blutdruck auch nach der ersten Gabe von blutdrucksenkenden Medikamenten nicht absinkt oder sogar weiter ansteigt, kann es notwendig sein, eine intravenöse Therapie mit stärkeren blutdrucksenkenden Mitteln einzuleiten. In einer Klinik oder einer ärztlich überwachten Umgebung stehen mehrere Medikamente zur Verfügung, um den Blutdruck zu regulieren.
Intravenöse Blutdrucksenker wie Urapidil oder Clonidin können helfen, den Blutdruck effektiv und kontrolliert zu senken, insbesondere wenn Tabletten oder Sprays nicht ausreichen.
Langsam wirkende Medikamente wie ACE-Hemmer oder Angiotensin-Rezeptor-Blocker können je nach individueller Situation zum Einsatz kommen, um eine längerfristige Senkung des Blutdrucks zu ermöglichen.
Flüssigkeitsgabe kann notwendig sein, falls eine Dehydration als Ursache für die starke Blutdruckreaktion vermutet wird.
Falls eine Esketamin-Behandlung bereits in der Vergangenheit zu starkem Bluthochdruck geführt hat, kann der behandelnde Arzt entscheiden, dass vor zukünftigen Behandlungen präventiv eine niedrige Dosis eines blutdrucksenkenden Medikaments gegeben wird.
Langfristige Kontrolle bei wiederholt hohem Blutdruck
Wenn der Blutdruck nach einer Esketamin-Sitzung immer wieder übermäßig hoch bleibt, sollte die gesamte Behandlung überprüft werden. In einigen Fällen kann es sinnvoll sein, die Dosierung von Esketamin zu reduzieren oder die Frequenz der Sitzungen anzupassen.
Ein besonders wichtiger Punkt ist die Kontrolle der individuellen Blutdruckwerte vor der Behandlung. Falls bereits ein erhöhter Ausgangswert vorliegt, sollte das Risiko vor der Esketamin-Gabe genau abgewogen werden. In solchen Fällen könnte es notwendig sein, die bestehenden blutdrucksenkenden Medikamente anzupassen oder eine engmaschigere Überwachung während der Behandlung einzuplanen.
Auch Ernährung und Lebensstilfaktoren sollten berücksichtigt werden. Falls der Blutdruck nach jeder Sitzung dauerhaft zu hoch bleibt, könnte eine genauere Betrachtung der allgemeinen Herz-Kreislauf-Gesundheit hilfreich sein. Eine salzärmere Ernährung, eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr sowie die Vermeidung von koffein- oder alkoholhaltigen Getränken am Behandlungstag können unterstützend wirken.
Wann ist ein Krankenhausaufenthalt notwendig?
Falls der Blutdruck trotz aller Maßnahmen über mehrere Stunden hinweg nicht unter einen kritischen Wert sinkt oder zusätzlich Symptome wie starke Brustschmerzen, Atemnot, neurologische Ausfälle (z. B. Sprachstörungen oder Lähmungen) oder Bewusstseinsveränderungen auftreten, sollte sofort ein Notarzt gerufen werden.
In solchen Fällen könnte eine hypertensive Krise vorliegen, die ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle oder Herz-Kreislauf-Komplikationen mit sich bringt. Ein Krankenhausaufenthalt kann dann notwendig sein, um die Werte unter stabilen Bedingungen zu senken und Folgeschäden zu vermeiden.
Nicht ignorieren, sondern handeln
Ein hoher Blutdruck nach einer Esketamin-Behandlung sollte nicht unterschätzt werden, aber er kann in den meisten Fällen sicher kontrolliert werden. Wenn der Blutdruck trotz erster Maßnahmen hoch bleibt, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, um ihn zu senken – von stärkeren Medikamenten bis hin zur Anpassung der Therapie.
Entscheidend ist, dass Patienten mit einer Neigung zu Bluthochdruck eng mit ihrem Arzt zusammenarbeiten, um das Risiko zu minimieren. Durch eine gute Vorbereitung, regelmäßige Blutdruckkontrollen und ein genau abgestimmtes Behandlungskonzept kann Esketamin sicher eingesetzt werden, ohne langfristige gesundheitliche Risiken für das Herz-Kreislauf-System einzugehen.
Kopfschmerzen und Müdigkeit – Die Nachwirkungen der Behandlung
Nach einer Esketamin-Sitzung berichten einige Patienten von Kopfschmerzen oder einem allgemeinen Gefühl der Erschöpfung. Dies ist nicht ungewöhnlich, da das Gehirn während der Behandlung auf intensive Weise arbeitet und sich neue Verknüpfungen bilden.
Müdigkeit ist eine häufige Begleiterscheinung, die allerdings oft auch mit der psychischen Entlastung zusammenhängt. Viele Patienten beschreiben, dass sie sich nach der Behandlung emotional erleichtert, aber körperlich erschöpft fühlen. Dies kann damit zu tun haben, dass die Wahrnehmungsveränderung und die mentale Verarbeitung von Emotionen anstrengend sein können.
Die meisten Patienten benötigen nach der Sitzung einige Stunden der Ruhe, bevor sie wieder ihren normalen Aktivitäten nachgehen können. Es wird empfohlen, sich an diesem Tag keine großen Aufgaben vorzunehmen und sich genügend Zeit für Erholung zu lassen.
Kognitive Beeinträchtigungen – Eine vorübergehende Verlangsamung
Ein weiterer Effekt von Esketamin kann eine kurzfristige Veränderung der kognitiven Fähigkeiten sein. Manche Patienten berichten, dass sie sich nach der Behandlung etwas langsamer fühlen, dass ihre Reaktionsfähigkeit oder ihr Erinnerungsvermögen für einige Stunden leicht beeinträchtigt ist.
Dieser Effekt ist in der Regel mild und klingt innerhalb eines Tages vollständig ab. Dennoch ist es wichtig, nach der Einnahme keine Maschinen zu bedienen oder Auto zu fahren. Das Gehirn braucht Zeit, um sich an die Behandlung anzupassen, und es ist ratsam, an diesem Tag keine komplexen Entscheidungen zu treffen.
Besteht ein Risiko einer Abhängigkeit?
Eine der häufigsten Fragen zu Esketamin betrifft die Möglichkeit einer Abhängigkeit. Da Esketamin ein Derivat von Ketamin ist, einem Stoff, der in höheren Dosen auch missbräuchlich verwendet werden kann, gibt es verständlicherweise Bedenken hinsichtlich eines Suchtpotenzials.
Allerdings zeigen Studien, dass Esketamin in kontrollierten klinischen Dosierungen und unter medizinischer Aufsicht ein sehr geringes Risiko für Abhängigkeit aufweist. Die Behandlung erfolgt nach einem festen Protokoll und wird in spezialisierten Einrichtungen durchgeführt, um jeglichen Missbrauch zu verhindern.
Fazit: Nebenwirkungen verstehen und begleiten
Esketamin ist ein mächtiges Medikament mit einer schnellen und tiefgreifenden Wirkung. Es kann dort helfen, wo andere Therapien gescheitert sind, aber es bringt auch Nebenwirkungen mit sich, die sorgfältig überwacht und verstanden werden müssen.
Viele dieser Begleiterscheinungen sind vorübergehend und klingen innerhalb weniger Stunden oder Tage ab. Sie sind kein Zeichen dafür, dass die Behandlung nicht funktioniert, sondern vielmehr eine natürliche Reaktion des Körpers und des Gehirns auf einen intensiven therapeutischen Prozess.
Die wichtigste Botschaft für Patienten ist: Sie sind während der gesamten Behandlung nicht allein. Jeder Schritt wird von einem erfahrenen medizinischen Team begleitet, das darauf vorbereitet ist, Nebenwirkungen zu minimieren und die bestmögliche Erfahrung zu ermöglichen.
Esketamin kann ein Tor zu neuer Hoffnung sein. Und mit der richtigen Begleitung kann dieser Weg sicher, verständlich und wirksam gestaltet werden – für eine Zukunft, die heller ist als die Vergangenheit.
Quelle
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