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Manchmal beginnt es mit einer Hoffnung, die sich ganz logisch anfühlt. Du warst krank, du hattest einen Infekt, du hast dich durch Tage geschleppt, in denen der Körper schwer war und der Kopf leer.

Schwarze Silhouette einer Frau mit langen glatten Haaren, sitzend auf einem steinigen Boden vor einem sanften Farbverlauf in Blau, Magenta, Rot, Orange und Gelb. Text im Bild: „ME/CFS eine körperliche, chronische Multisystemerkrankung“ und „Das falsche Wort ‚Müdigkeit‘: Wie Sprache eine Krankheit entstellt“. Signatur: visite-medizin.de.
ME/CFS: eine körperliche, chronische Multisystemerkrankung – warum das Wort „Müdigkeit“ die Krankheit entstellt.

Und dann kommt dieser Moment, auf den man wartet: Der Infekt ist vorbei. Fieber weg. Husten weg. Tests wieder unauffällig. Der Kalender öffnet sich wieder. Menschen sagen Sätze, die wie Türen klingen: „Jetzt geht es bergauf.“ Und du willst ihnen glauben, weil du dir selbst glauben willst, dass der Körper sich wieder fängt.

Aber bei ME/CFS kommt dieser Körper oft nicht zurück. Nicht in der Weise, wie man es erwartet. Es ist nicht so, dass du einfach nur länger brauchst. Es ist eher, als würde etwas Grundlegendes in der Steuerung kippen. Als wäre der Körper nicht mehr in der Lage, Belastung so zu verarbeiten, dass sie wieder zu Neutralität wird. Man kann sich das wie eine innere Infrastruktur vorstellen, die plötzlich nicht mehr stabil ist: Kreislauf, Nervensystem, Immunreaktionen, Energiestoffwechsel, Reizverarbeitung. Dinge, die normalerweise im Hintergrund laufen, werden zu sichtbaren Baustellen. Und du stehst mittendrin, ohne Bauplan, ohne sichere Diagnose, manchmal ohne Sprache, die das beschreibt, ohne dass es klein klingt.

ME/CFS ist keine Geschichte von „ein bisschen zu müde“. Es ist eine Geschichte von Instabilität. Von einem Körper, der nicht mehr zuverlässig zurück in die Mitte findet. Von einer Belastungsgrenze, die nicht nur niedrig ist, sondern unberechenbar. Von einem Leben, das nicht deshalb kleiner wird, weil du dich zurückziehst, sondern weil der Körper dich nach Aktivität in eine Zustandsverschlechterung treibt, die sich anfühlt wie ein Absturz in ein anderes Betriebssystem.

Viele Betroffene erinnern sich später nicht an einen dramatischen ersten Tag, sondern an eine Reihe von Irritationen, die irgendwann zu einer Gewissheit werden: Das ist nicht normal. Das geht nicht weg. Das ist nicht einfach Erschöpfung. Das ist eine Krankheit.

Und während du versuchst, das für dich zu begreifen, ist da oft schon die nächste Ebene: die Angst, nicht geglaubt zu werden. Weil ME/CFS leise ist. Weil sie sich nicht an sichtbare Krankheitszeichen hält. Weil man an manchen Tagen „ganz okay“ wirkt und am nächsten Tag nicht aus dem Bett kommt. Weil die Logik von ME/CFS nicht die Logik ist, die unsere Gesellschaft gewohnt ist.

Das falsche Wort „Müdigkeit“: Wie Sprache eine Krankheit entstellt

Es ist erstaunlich, wie viel Macht ein Wort haben kann. „Müdigkeit“ klingt nach Alltag. Nach zu wenig Schlaf. Nach zu viel Arbeit. Nach einem Wochenende, das zu kurz war. Es klingt nach etwas, das man kennt. Und genau darin liegt das Problem: Dieses Wort macht ME/CFS in den Köpfen vieler Menschen kleiner, als sie ist.

Wenn Betroffene versuchen zu beschreiben, was mit ihnen passiert, geraten sie oft in eine sprachliche Sackgasse. Denn wie sagt man, dass Anstrengung nicht stärker macht, sondern kränker? Wie sagt man, dass ein kurzer Spaziergang nicht „ein bisschen erschöpft“, sondern tagelang krank auslösen kann? Wie sagt man, dass die Erholung nicht zuverlässig zurückkommt, obwohl man alles tut, was man gelernt hat: schlafen, ruhen, sich schonen?

Müdigkeit ist in unserer Vorstellung etwas Lineares. Du bist müde, du ruhst, du wirst besser. Bei ME/CFS ist diese Linearität gebrochen. Und dieser Bruch ist nicht nur ein medizinisches Detail, er ist die Quelle unzähliger Missverständnisse, Konflikte und Verletzungen.

Der Satz „Ich bin auch oft müde“ ist deshalb nicht nur ungenau. Er ist wie ein Deckel auf einer Realität, die ohnehin kaum Luft bekommt. Er nimmt dem Erleben seine Schwere. Er macht aus einem Absturz eine Befindlichkeit. Aus einer Multisystemerkrankung einen Zustand, den man mit Kaffee und Disziplin überbrücken könnte.

Betroffene hören solche Sätze oft nicht nur von Bekannten, sondern auch in medizinischen Kontexten. Und dann wird aus dem Missverständnis ein Systemproblem: Wenn die Sprache die Krankheit verharmlost, verharmlost sie auch die Versorgung. Und wenn die Versorgung die Krankheit verharmlost, werden Betroffene nicht geschützt, sondern gefährdet.

Post-Exertionelle Malaise: Der Moment, in dem das System kippt

Wenn es einen Kern gibt, der ME/CFS von fast allem unterscheidet, dann ist es die post-exertionelle Malaise – dieses schwer übersetzbare Phänomen, bei dem Belastung nicht einfach Ermüdung auslöst, sondern eine Zustandsverschlechterung, die zeitverzögert einsetzt und den gesamten Organismus betrifft.

Es ist wichtig, das nicht als „ich war danach platt“ zu missverstehen. Viele Betroffene beschreiben es eher wie eine Entgleisung. Der Körper wirkt nicht wie ein Muskel, der erschöpft ist, sondern wie ein System, das seine Stabilität verliert. Das kann sich anfühlen wie Grippe ohne Virus, wie Fiebergefühl, das keiner messen kann, wie Schüttelfrost im Inneren, wie Muskelschmerz, der nicht zum Tag passt, wie ein Nervensystem, das gleichzeitig zu laut und zu schwach ist. Dazu kann Herzrasen kommen, Kreislaufzusammenbruch, Benommenheit, ein Gefühl, als sei der Kopf zu eng für Gedanken, als sei Sprache plötzlich ein Luxus, als sei die Welt ein zu grelles, zu lautes, zu schnelles Material.

Und dann gibt es noch diese tückische Verzögerung. Du machst etwas – manchmal sogar etwas Schönes – und erst Stunden oder Tage später kommt der Crash. Diese Verzögerung zerstört nicht nur Planung, sie zerstört auch Glaubwürdigkeit in den Augen der anderen. Denn Menschen verstehen Ursache und Wirkung am besten, wenn sie nah beieinander liegen. Wenn jemand nach einem Marathon umkippt, ist das plausibel. Wenn jemand nach einem kurzen Gespräch zwei Tage später nicht mehr aufstehen kann, wird es in den Köpfen schnell unlogisch. Und wo Unlogik entsteht, entsteht Verdacht.

Viele Betroffene erleben, dass sie sich ständig erklären müssen, obwohl sie selbst nur versuchen, Muster zu erkennen. Sie leben in einer permanenten Rückschau: Was war zu viel? Wo habe ich mich überschätzt? War es der Einkauf? War es der Lärm? War es das Gespräch? War es die emotionale Spannung? War es das Nachdenken? Denn auch das ist bei ME/CFS grausam: Belastung ist nicht nur körperlich. Sie ist auch mental und emotional. Ein Konflikt, eine Sorge, ein intensives Gespräch können denselben Crash auslösen wie körperliche Aktivität.

So wird das Leben zu einer Art innerer Buchhaltung, aber nicht aus Pedanterie, sondern aus Not. Nicht, weil man kontrollieren will, sondern weil man sonst abstürzt.

Der Körper als Risiko: Wenn „normal“ plötzlich gefährlich wird

Es gibt einen Moment, den viele Betroffene irgendwann spüren, auch wenn sie ihn nicht sofort benennen können. Es ist der Moment, in dem „normal leben“ nicht mehr wie ein Ziel klingt, sondern wie eine Gefahr. Denn normal leben bedeutet für die meisten Menschen: Termine, Wege, Gespräche, Reize, Verpflichtungen, soziale Rollen. Ein Tag, der sich füllt, ohne dass man jede Minute kalkulieren muss.

Bei ME/CFS kann genau dieses Füllen den Körper in den Crash treiben. Und das ist psychologisch kaum auszuhalten, weil es gegen alles geht, was man gelernt hat. Man lernt doch, dass Aktivität gesund ist. Dass Bewegung hilft. Dass man sich wieder aufbauen muss. Dass man sich nicht gehen lassen darf.

Wenn du ME/CFS hast, kann dieses „Du musst dich aufbauen“ wie eine Drohung klingen. Nicht, weil Aktivität an sich böse wäre, sondern weil dein Körper sie nicht mehr so verarbeitet wie früher. Du kannst nicht in die alte Logik zurück, ohne dass du riskierst, dass der Preis zu hoch wird.

Viele Betroffene geraten dadurch in einen schmerzhaften Konflikt mit ihrem eigenen Selbstbild. Wer war ich, bevor das begann? War ich leistungsfähig, zuverlässig, jemand, der Verantwortung getragen hat? Und was bin ich jetzt, wenn ich plötzlich Dinge nicht mehr kann, die früher selbstverständlich waren? Wenn ich Absagen schreiben muss, die sich wie Lügen anfühlen, weil sie so oft kommen? Wenn ich Pläne nicht einhalte, obwohl ich sie so ernst meine? Wenn ich Menschen enttäusche, obwohl ich sie liebe?

ME/CFS ist eine Krankheit, die dich nicht nur körperlich begrenzt, sondern auch moralisch unter Druck setzt. Weil unsere Kultur Leistung als Tugend betrachtet. Und weil ein Körper, der Leistung nicht mehr zulässt, schnell als Charakterfrage fehlinterpretiert wird.

Die Unsichtbarkeit: Wenn du krank bist, aber niemand es sieht

Unsichtbarkeit ist nicht nur ein ästhetisches Problem. Sie ist ein soziales Risiko. Denn was man nicht sieht, wird verhandelt. Was man nicht sieht, wird angezweifelt. Was man nicht sieht, wird psychologisiert oder moralisiert.

ME/CFS kann äußerlich unscheinbar wirken, während sie innerlich alles verändert. Das führt zu einer besonderen Form von Einsamkeit: Du bist krank, aber du musst es ständig beweisen. Du bist erschöpft, aber du wirkst vielleicht „okay“. Du liegst flach, aber am nächsten Tag kannst du kurz eine Nachricht schreiben, und schon wirkt es, als sei alles halb so schlimm. Diese wechselhafte Oberfläche ist Teil der Krankheit – und zugleich ihre größte Falle in der Wahrnehmung anderer.

Viele Betroffene berichten von einer Art sozialem Misstrauen, das sich schleichend in Beziehungen setzt. Nicht immer ausgesprochen. Manchmal nur als Tonfall. Als Blick. Als kleine Bemerkung. Als Rat, der wie ein Vorwurf klingt: „Geh doch mal an die Luft.“ „Lenk dich ab.“ „Du musst da raus.“ Diese Sätze sind oft der Versuch, zu helfen. Aber sie enthalten eine Botschaft: Dein Zustand ist veränderbar, wenn du es nur richtig machst. Und genau das ist bei ME/CFS so häufig nicht der Fall.

Das führt dazu, dass Betroffene sich zurückziehen – nicht nur wegen der körperlichen Belastung, sondern auch wegen der emotionalen Erschöpfung, die aus dem permanenten Rechtfertigen entsteht. Es ist eine zweite Erschöpfungsschicht: die Erschöpfung durch Unglauben.

Die medizinische Leerstelle: Wenn „wir finden nichts“ wie „da ist nichts“ klingt

In der Medizin gibt es einen Reflex, der aus struktureller Überforderung entsteht: Wenn nichts eindeutig messbar ist, verschiebt man es in Bereiche, die erklärbarer wirken. In Bereiche, die man behandeln kann. In Bereiche, die zu einem bekannten Narrativ passen. Bei ME/CFS hat dieser Reflex über Jahrzehnte enormen Schaden angerichtet.

Denn ME/CFS ist körperlich. Eine Multisystemerkrankung. Das heißt nicht, dass man immer sofort eindeutige Laborwerte findet, die alles erklären. Aber es heißt, dass die Krankheit nicht dadurch weniger real wird, dass sie schwer zu messen ist. Sie wird dadurch nur schwerer zu versorgen.

Für Betroffene kann diese medizinische Leerstelle traumatisch sein. Nicht unbedingt im dramatischen Sinn, sondern im zermürbenden. Du gehst zu Ärzten, du erzählst, du erklärst, du hoffst, und du hörst am Ende Sätze wie: „Somatisch ist alles in Ordnung.“ „Das ist Stress.“ „Das ist vermutlich psychosomatisch.“ „Sie müssen sich mehr bewegen.“ Und du spürst, dass dein Körper bei mehr Bewegung abstürzt. Du spürst, dass das System kippt. Und du stehst mit dieser Erfahrung allein.

Manchmal entsteht daraus eine gefährliche Dynamik: Betroffene zweifeln an sich, versuchen es doch wieder, überschreiten Grenzen, crashen, verschlechtern sich. Dann wird der Zustand wieder als Beweis genommen, dass sie „ängstlich“ oder „depressiv“ seien. Es ist eine Spirale, in der die Krankheit und die Fehldeutung sich gegenseitig verstärken.

Es ist möglich, dass jemand mit ME/CFS Angst entwickelt. Es ist möglich, dass jemand depressiv wird. Aber es ist nicht nur möglich, es ist menschlich nachvollziehbar. Denn wer ständig erlebt, dass der Körper nicht trägt und die Umwelt nicht glaubt, lebt in einem Zustand chronischer Bedrohung. Nicht eingebildet. Sondern real.

Wenn Denken zu schwer wird: Der Verlust von kognitiver Selbstverständlichkeit

Es ist schwer zu erklären, wie es ist, wenn das eigene Denken nicht mehr zuverlässig funktioniert. Viele Betroffene verwenden Begriffe wie „Brain Fog“, weil es kaum andere gibt. Aber „Fog“ klingt nach Nebel, nach etwas, das man durchschreiten kann. Für manche ist es eher ein Abriss. Ein Verlust von Zugriff. Als würde das Gehirn nicht mehr wie ein Werkzeug funktionieren, sondern wie ein überlasteter Raum, in dem jedes zusätzliche Wort die Luft nimmt.

Sätze können abbrechen. Gedanken können sich auflösen. Lesen wird anstrengend, nicht weil man keine Lust hat, sondern weil die Verarbeitungskapazität fehlt. Gespräche können crashen, nicht in der Situation selbst, sondern später. Manchmal wirkt jemand im Gespräch noch präsent, und später folgt der Absturz. Auch das irritiert Angehörige: „Aber du warst doch eben noch da.“ Ja. Und genau deshalb ist ME/CFS so perfide: Viele Betroffene können kurzfristig funktionieren, aber nicht ohne Konsequenz.

Das bedeutet, dass Kommunikation selbst zur Belastung werden kann. Und Kommunikation ist gleichzeitig das, was Beziehungen braucht. So entsteht ein Dilemma: Nähe kostet Energie, aber ohne Nähe wächst Einsamkeit. Betroffene stehen oft zwischen dem Wunsch nach Verbindung und der Angst vor dem Preis, den der Körper dafür verlangt.

Reizintoleranz: Wenn die Welt zu laut wird, obwohl du sie nicht mehr verlassen kannst

ME/CFS kann die Reizverarbeitung verändern. Licht, Geräusche, Gerüche, Berührung, soziale Dynamik – alles kann zu viel werden. Das ist nicht „Empfindlichkeit“ im umgangssprachlichen Sinn, sondern eine Form von Überlastung eines Systems, das nicht mehr gut reguliert.

Wer das nicht erlebt hat, stellt sich oft vor, dass man sich einfach daran gewöhnen könnte. Oder dass es eine Frage der Einstellung sei. Aber wenn Reize körperliche Symptome verstärken und einen Crash auslösen können, wird „Gewöhnung“ zu einem gefährlichen Wort. Dann ist der Rückzug kein Charakterzug, sondern Schutz.

Für Angehörige ist das schwer, weil es gegen intuitive Hilfsimpulse geht. Man möchte den Menschen „rausholen“, ablenken, aktivieren, erfreuen. Man möchte Normalität zurückbringen. Und manchmal ist genau dieser gut gemeinte Versuch der Auslöser für Verschlechterung.

Das kann Beziehungen belasten, weil beide Seiten leiden: Betroffene, weil sie nicht mehr können. Angehörige, weil sie sich hilflos fühlen und manchmal das Gefühl haben, alles falsch zu machen.

Die stille Trauer: Wenn du verlierst, was andere nicht einmal sehen

ME/CFS ist Verlust. Nicht nur von Energie, sondern von Leben, wie man es kannte. Von Arbeit, von sozialen Rollen, von spontanen Momenten, von Reisen, von Plänen, von der Möglichkeit, einfach zu sein, ohne den Körper ständig zu kalkulieren.

Diese Trauer hat oft keinen Raum. Weil die Krankheit nicht anerkannt ist. Weil das Umfeld manchmal glaubt, es sei „eine Phase“. Weil Behörden und Systeme selten eine Sprache für diese Form von chronischer Einschränkung haben. Und weil Betroffene selbst oft lange brauchen, um zu akzeptieren, dass das nicht einfach „wieder weggeht“, wenn man sich nur genug schont oder genug kämpft.

Trauer ohne Anerkennung ist eine besondere Einsamkeit. Du betrauerst etwas, das du verloren hast, während andere noch so tun, als wäre es jederzeit zurückholbar. Du wirst aufgefordert, zu hoffen, obwohl Hoffnung dich manchmal verletzt, weil sie sich nicht erfüllt. Und du musst trotzdem einen Weg finden, nicht innerlich zu versteinern.

Viele Betroffene entwickeln deshalb eine vorsichtige Form von Hoffnung. Keine großen Versprechen. Keine triumphalen Narrative. Eher eine leise Hoffnung, dass der nächste Tag nicht schlimmer wird. Dass es eine Phase von Stabilität gibt. Dass das System irgendwann wieder etwas mehr Spielraum lässt. Dass Forschung und Versorgung Fortschritte machen. Hoffnung wird klein, damit sie nicht zerbricht.

Angehörige: Liebe in einem System ohne Plan

Wenn ME/CFS in eine Familie oder Partnerschaft kommt, verändert sich die Statik. Nicht, weil jemand es will, sondern weil die Krankheit neue Regeln aufzwingt. Belastung wird zu einem Risiko. Spontaneität wird zu etwas, das man sich nicht leisten kann. Die Beziehung muss lernen, dass „gute Tage“ nicht gleichbedeutend mit „es geht bergauf“ sind. Dass ein schöner Besuch einen Crash nach sich ziehen kann. Dass Freude und Krankheit sich nicht ausschließen, aber manchmal einen Preis haben.

Angehörige tragen oft eine stille Doppelbelastung. Sie sehen das Leiden, sie fühlen Ohnmacht, sie übernehmen Aufgaben, sie organisieren, sie halten den Alltag zusammen. Und gleichzeitig müssen sie mit ihrem eigenen emotionalen Chaos umgehen: Trauer, Wut, Erschöpfung, Schuld. Schuld, weil sie manchmal genervt sind. Schuld, weil sie sich zurücksehnen nach dem Leben davor. Schuld, weil sie nicht wissen, wie lange sie das noch können.

Viele Angehörige lieben einen Menschen, der noch derselbe ist – und doch nicht mehr derselbe, weil Krankheit Identität verändert. Nicht im Kern, aber in Ausdruck und Möglichkeiten. Und diese Diskrepanz ist schmerzhaft: Du erkennst den Menschen, aber du erkennst sein Leben nicht wieder.

In manchen Beziehungen entsteht dadurch eine tiefe Nähe, weil sie sich auf Wesentliches reduziert. In anderen entsteht Distanz, weil das System keine Entlastung bietet. Beides ist nicht moralisch zu bewerten. Beides ist menschlich. ME/CFS ist eine Krankheit, die Beziehungen nicht nur testet, sondern umformt. Und manchmal ist es schon eine Leistung, dass man überhaupt noch miteinander bleibt, ohne sich gegenseitig zu verlieren.

Die gesellschaftliche Härte: Wenn Produktivität als Maßstab bleibt

ME/CFS konfrontiert uns mit einer unbequemen Wahrheit: Unsere Gesellschaft misst Menschen stark an Produktivität. Wer nicht „funktioniert“, verliert schnell an Wert in den Augen anderer – oder zumindest an Geduld. Und genau deshalb ist ME/CFS nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale Krise.

Betroffene erleben oft, dass sie nicht nur krank sind, sondern auch verdächtig. Dass sie nicht nur Hilfe brauchen, sondern auch Misstrauen ernten. Dass sie nicht nur Schutz brauchen, sondern auch Rechtfertigungspflicht. Und dass dieses Misstrauen nicht immer laut ist. Manchmal kommt es als Schweigen. Als Kontaktabbruch. Als ausbleibende Einladung. Als Satz: „Meld dich, wenn es dir besser geht.“ Und das „wenn“ hängt dann wie ein Haken in der Luft, weil man nicht weiß, ob es dieses „besser“ jemals so geben wird, wie es gemeint ist.

ME/CFS zeigt, wie wenig Platz unsere Welt für Zustände hat, die nicht heroisch sind. Für Zustände, die nicht mit Kampf und Sieg enden. Für Zustände, die einfach dauern.

Würde: Der Punkt, an dem du nicht mehr diskutierst, ob du krank bist

Irgendwann erreichen viele Betroffene einen inneren Punkt, der nicht triumphal ist, sondern still. Einen Punkt, an dem sie aufhören, sich selbst permanent zu beweisen. Nicht, weil sie aufgegeben haben, sondern weil sie überlebt haben müssen. Weil dauernde Selbstzweifel Energie frisst, die ohnehin nicht da ist. Weil sie gelernt haben, dass ein Körper, der nach Belastung entgleist, nicht durch Rechtfertigung stabiler wird.

Diese innere Bewegung ist oft schmerzhaft. Sie bedeutet, Abschied zu nehmen von der Idee, dass man durch Erklärung alles lösen kann. Sie bedeutet, Grenzen zu setzen, auch wenn andere sie nicht verstehen. Sie bedeutet, dass man nicht mehr jedes Missverständnis korrigiert, weil das Korrigieren selbst eine Belastung ist. Sie bedeutet, dass man akzeptiert, dass manche Menschen nicht bleiben, wenn man nicht mehr so ist wie vorher.

Würde ist in diesem Kontext nicht Stolz, nicht Stärke im klassischen Sinn. Würde ist der feste Boden, auf dem du sagst: Ich weiß, was mein Körper macht. Ich weiß, was es kostet. Und ich verdiene es, dass das ernst genommen wird.

Für Angehörige kann Würde bedeuten, den Menschen nicht ständig zurück in das alte Leben ziehen zu wollen, sondern ihn im neuen Leben zu sehen, so schmal und fragil es manchmal ist. Würde kann bedeuten, nicht zu verlangen, dass jemand „kämpft“, wenn Kämpfen hier schadet. Würde kann bedeuten, das Tempo des Körpers zu akzeptieren, auch wenn es weh tut.

Und vielleicht ist das das Härteste: Dass ME/CFS uns zwingt, Liebe anders zu denken. Nicht als gemeinsame Aktivität, sondern als gemeinsames Aushalten. Nicht als „wir machen etwas“, sondern als „wir bleiben da“, auch wenn nichts zu machen ist.

Wenn du dir wünschst, dass jemand einfach nur glaubt, was du sagst

Es gibt einen einfachen Satz, den viele Betroffene selten hören und der doch so viel verändern könnte. Nicht, weil er Symptome heilt. Sondern weil er das soziale Gift neutralisiert, das die Krankheit verstärkt. Dieser Satz lautet: „Ich glaube dir.“

  • Nicht: „Ich verstehe das komplett.“
  • Nicht: „Ich weiß genau, wie das ist.“
  • Sondern: „Ich glaube dir.“

Weil ME/CFS so oft an der Grenze von Glaubwürdigkeit verhandelt wird. Weil Betroffene so häufig in die Situation geraten, ihre Krankheit beweisen zu müssen, obwohl sie ohnehin schon ums Überleben ihres Alltags kämpfen. Weil Misstrauen nicht nur emotional schmerzt, sondern auch konkret gefährlich ist, wenn es zu falscher Behandlung, zu Druck, zu Aktivierung, zu Überlastung führt.

Glauben heißt nicht, dass man alles erklären kann. Glauben heißt, dass man die Erfahrung ernst nimmt, auch wenn sie nicht in die eigene Logik passt. Glauben heißt, dass man nicht aus der Abwesenheit eines einfachen Tests die Abwesenheit einer Krankheit macht. Glauben heißt, dass man dem Körper eines Menschen mehr traut als dem eigenen Unbehagen gegenüber dem Unbekannten.

ME/CFS ist keine Mode-Diagnose. Es ist auch kein Etikett für Müdigkeit. Es ist eine körperliche, chronische Multisystemerkrankung. Und sie verändert Leben auf eine Weise, die sich nicht in motivierenden Sprüchen, nicht in gut gemeinten Vergleichen und nicht in schnellen Erklärungen auflösen lässt.

Sie verlangt etwas, das in unserer lauten Welt selten geworden ist: Geduld mit Unsichtbarem. Respekt vor Grenzen, die man nicht sieht. Und eine Art von Mitmenschlichkeit, die nicht davon abhängt, ob ein Zustand in die eigenen Erfahrungsräume passt.

Und wenn du Betroffener bist, ist es vielleicht das Wichtigste, was gesagt werden kann: Du bist nicht krank, weil du schwach bist. Du bist nicht krank, weil du dich zu sehr hineinsteigerst. Du bist krank, weil dein Körper krank ist. Und dass du jeden Tag versuchst, in diesem Körper zu leben, ist keine kleine Leistung, auch wenn sie niemand beklatscht.



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