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ME/CFS hat nicht die eine Ursache. Nach heutigem medizinischem Kenntnisstand entsteht die Erkrankung multifaktoriell – durch das Zusammenwirken mehrerer biologischer Auslöser und Fehlregulationen im Körper. Wichtig ist: ME/CFS ist keine psychosomatische Erkrankung, sondern eine körperliche, chronische Multisystemerkrankung.

Es sieht oft nicht dramatisch aus. Und genau das macht es so brutal.

Schwarze Passepartout-Silhouette einer sitzenden Frau mit Hoodie auf schrägem, steinigem Boden vor einem Farbverlauf von Blau über Magenta und Rot bis Orange und Gelb; Text: ME/CFS verstehen – Wenn der Körper nach einer Infektion nicht mehr zurückfindet; Signatur visite-medizin.de.
ME/CFS verstehen – Ursachen und Mechanismen

Es gibt Krankheiten, die dramatisch aussehen.

Man sieht Schläuche, Narben, sichtbare Lähmungen, sichtbare Blutwerte, sichtbare Befunde. Und dann gibt es ME/CFS: eine Erkrankung, die im Inneren tobt und nach außen oft so wenig hergibt, dass sie jahrzehntelang falsch verstanden werden konnte. Nicht weil sie mild wäre, sondern weil sie leise ist. Weil sie die Bühne meidet. Weil sie Menschen nicht „krank aussehen“ lässt, sondern sie in einen Zustand zwingt, in dem jede Bewegung, jeder Gedanke, jedes Gespräch eine Art Kreditaufnahme wird. Ein Kredit, der später mit Zinsen zurückgezahlt wird. Nicht moralisch. Nicht psychologisch. Sondern biologisch. Im Gewebe, im Kreislauf, in der Energieversorgung.

ME/CFS ist keine Mode-Diagnose. Es ist auch kein Etikett für Müdigkeit. Es ist eine körperliche, chronische Multisystemerkrankung, die häufig nach Infektionen beginnt und in der die zentrale Erfahrung vieler Betroffener nicht „Ich bin erschöpft“ lautet, sondern: „Mein Körper kann Belastung nicht mehr verarbeiten.“ Und wer das nicht erlebt hat, greift schnell zu falschen Bildern. Der Körper wirkt doch ruhig. Der Mensch wirkt doch ansprechbar. Also müsse es eine Frage der Einstellung sein. Genau dort beginnt das zweite Leiden: das Leiden an Missverständnissen. Das Leiden an Erklärungen, die nicht passen. Das Leiden daran, dass man sich dauernd rechtfertigen muss für etwas, das man selbst nicht gewählt hat.

Wenn man über Ursachen von ME/CFS spricht, stößt man sofort an eine Grenze, die für viele Erkrankungen gilt, hier aber besonders schmerzhaft ist: Es gibt nicht die eine Ursache. Es gibt keinen einzigen Auslöser, den man wie einen Täter benennen kann. ME/CFS entsteht nach heutigem medizinischem Kenntnisstand multifaktoriell. Das bedeutet: Mehrere biologische Faktoren greifen ineinander. Ein Ereignis kann den Anfang markieren, aber der Verlauf wird durch Fehlregulationen getragen, die sich festsetzen. Es ist, als hätte der Körper nach einer Infektion den Weg zurück in die Normalität verloren. Nicht als Entscheidung, sondern als Störung von Systemen, die normalerweise unbemerkt zusammenarbeiten: Immunsystem, Nervensystem, Kreislauf, Energieproduktion, Stressregulation.

Dieser Text ist eine Einordnung, kein Lehrbuch. Er will nicht belehren, sondern verstehen helfen. Für Menschen, die betroffen sind und jeden Tag erleben, dass sie sich nicht „zusammenreißen“ können, ohne dafür zu bezahlen. Und für Angehörige, die oft zwischen Mitgefühl und Hilflosigkeit stehen, weil die Krankheit nicht in das passt, was man über Krankheit zu wissen glaubt. ME/CFS ist ein Zustand, der die Intuition angreift. Gerade deshalb lohnt es sich, langsam zu denken. Nicht in Stichwörtern, sondern in Zusammenhängen.

Der Anfang ist oft eine Infektion – aber das Ende ist kein Ende

Viele Lebensgeschichten mit ME/CFS beginnen ähnlich. Nicht immer, aber oft. Da ist eine Infektion, manchmal eindeutig und schwer, manchmal scheinbar moderat, manchmal eine klassische „Erkältung“, manchmal Pfeiffersches Drüsenfieber, Influenza, manchmal SARS-CoV-2. Der Körper kämpft. Der Körper übersteht es. Und dann passiert etwas, das zunächst wie eine verlängerte Rekonvaleszenz wirkt. Man wird nicht richtig wieder fit. Es bleibt eine Schwäche. Eine Müdigkeit. Eine merkwürdige Empfindlichkeit. Und man tut das, was man gelernt hat: Man versucht, wieder in den Alltag zurückzukehren. Ein bisschen Sport, ein bisschen Arbeit, ein bisschen Normalität.

Doch Normalität reagiert nicht mehr normal. Der Körper reagiert nicht mit Aufbau, sondern mit Absturz. Nicht zwingend sofort, nicht zwingend dramatisch, manchmal sogar perfide verzögert. Man hat einen Tag, an dem man „es geschafft“ hat, und am nächsten Tag kommt die Rechnung. Oder erst am übernächsten. Und die Rechnung ist nicht nur Müdigkeit, sondern ein Ganzkörperzustand: bleierne Schwäche, grippeähnliche Symptome, kognitiver Nebel, Schmerz, Kreislaufprobleme, Herzrasen, Schlaf, der nicht erholt, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit. Ein System, das nach Belastung nicht anpasst, sondern kippt.

Hier liegt eines der wichtigsten Missverständnisse. Viele Menschen kennen das Prinzip der Kondition: Wer nach einer Krankheit schwach ist, muss wieder trainieren, langsam aufbauen, sich wieder in Bewegung bringen. Für sehr viele Erkrankungen stimmt das. Für ME/CFS kann dieser Reflex zerstörerisch sein, weil die zentrale Störung nicht mangelnder Wille ist, sondern eine Belastungsintoleranz, die biologisch verankert ist. Das bedeutet nicht, dass Bewegung „verboten“ wäre. Es bedeutet, dass das übliche Bild von Training und Steigerung nicht greift, weil der Körper auf Mehr nicht mit Mehr reagiert, sondern mit Verschlechterung.

Dass ME/CFS oft nach Infektionen beginnt, macht die Erkrankung nicht „einfach erklärbar“. Es bedeutet nicht, dass ein Virus im Körper „sitzt“ wie ein dauerhaftes Feuer. Häufiger aber geht es um Folgeprozesse: Das Immunsystem, das Nervensystem, die Energieversorgung reagieren nach der Infektion anders, als sie sollten. Die Infektion ist dann nicht die Ursache im Sinne eines fortbestehenden Erregers, sondern der Auslöser, der eine Fehlregulation anstößt, die sich selbst erhält.

Post-Exertional Malaise: Das Symptom, das alles verändert, weil es eine andere Logik erzwingt

Wer ME/CFS verstehen will, muss an einem Punkt sehr lange verweilen: Post-Exertional Malaise, kurz PEM. Es ist ein Begriff, der sperrig klingt, fast technisch, und gerade deshalb ist er für Betroffene oft ein zweischneidiges Schwert. Endlich ein Wort für etwas, das man seit Monaten oder Jahren erlebt. Und gleichzeitig ein Wort, das Außenstehenden kaum erklärt, wie dramatisch dieses „Danach“ sein kann.

PEM ist keine normale Erschöpfung nach Anstrengung. Es ist eine Zustandsverschlechterung nach Belastung, die oft verzögert einsetzt und unverhältnismäßig stark ist. „Belastung“ ist dabei nicht nur Sport. Belastung kann ein Gespräch sein, ein Termin, eine Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln, ein Einkauf, eine Familienfeier, konzentriertes Lesen, emotionaler Stress, eine Überforderung durch Geräusche, Licht, Informationen. Der Körper reagiert nicht mit Muskelkater, sondern mit Systemstörung. Es ist, als würde die Belastung nicht verarbeitet, sondern gespeichert und später als Krise entladen.

Diese Logik ist für Außenstehende schwer, weil sie dem gewohnten Denken widerspricht. Normalerweise gilt: Wenn man etwas schafft, dann war es möglich. Wenn man es gestern geschafft hat, sollte es heute auch gehen. Wenn man sich aufrafft, wird es besser. Wenn man trainiert, baut man auf. Bei PEM gilt oft das Gegenteil: Das, was heute „geht“, kann morgen die Ursache eines Einbruchs sein.

PEM ist auch der Grund, warum viele Betroffene so spät verstanden werden. Denn nach außen ist häufig der Moment sichtbar, in dem jemand „funktioniert“. Man sieht den Besuch, nicht den Absturz danach. Man sieht das kurze Aufrichten, nicht die Tage im Dunkeln. Für Außenstehende wirkt das widersprüchlich. Für ME/CFS ist es typisch. Die Krankheit zwingt zu einem anderen Maßstab: Nicht das sichtbare Verhalten ist entscheidend, sondern die Reaktion des Systems danach.

Das Immunsystem: Nicht schwach, sondern fehlgesteuert – und ständig in einem Zustand, der Energie kostet

Nach einer Infektion sollte das Immunsystem zurückschalten. Bei ME/CFS gibt es Hinweise, dass diese Rückkehr in die Ruhe nicht zuverlässig gelingt. Für Betroffene fühlt sich das oft an wie ein dauerhafter „Infektzustand“, ohne dass man eine akute Infektion nachweisen kann. Viele beschreiben grippeähnliche Symptome, Lymphknotenschmerzen, Halsschmerzen, ein Krankheitsgefühl, das nicht wie Müdigkeit wirkt, sondern wie „krank sein“.

Ein fehlgesteuertes Immunsystem kann Energie verschlingen. Immunreaktionen sind metabolisch teuer. Wenn dieser Aufwand nicht nur kurzzeitig, sondern dauerhaft betrieben wird, dann wird der Energiehaushalt zum Engpass. Man kann das nicht einfach mit Schlaf ausgleichen, wenn das System selbst der Grund ist, warum der Körper nicht zur Ruhe kommt.

Viele Betroffene hören: „Die Entzündungswerte sind normal, also ist alles okay.“ Das ist ein Satz, der im Alltag oft wie ein Urteil wirkt. Normale Standardwerte schließen komplexe Fehlregulationen nicht aus. Nicht jede relevante Immunstörung spiegelt sich in klassischen Laborwerten.

Der Energiestoffwechsel: Wenn die Kraftwerke nicht liefern, aber das Leben trotzdem Strom verlangt

Viele Modelle zu ME/CFS kreisen um den Energiestoffwechsel. Betroffene erleben das nicht als Biochemie, sondern als Alltag: Duschen kann ein Projekt sein. Treppensteigen kann ein Risiko sein. Ein Telefonat kann die Grenze sein. Die Vorstellung, dass die zellulären „Kraftwerke“ ineffizient arbeiten könnten, ist für viele Betroffene intuitiv, weil sie sich so anfühlt: Man will, aber der Körper liefert nicht.

Was besonders quälend ist: Der Körper liefert manchmal doch. Kurz. Unter Adrenalin. Unter Druck. Unter dem Wunsch, zu funktionieren. Und genau dieses kurze Liefern kann später die Verschlechterung auslösen. Es entsteht eine Falle: Wenn der Körper kurz „kann“, glaubt die Umwelt, er könne immer. Wenn er danach abstürzt, glaubt die Umwelt, er übertreibe. Dabei ist genau diese Dynamik typisch für ein System, das Energie nicht stabil bereitstellen kann.

Auch der Schlaf wird in diesem Kontext verständlich. Viele Betroffene schlafen, aber erholen sich nicht. Man wacht auf, und der Körper fühlt sich an, als hätte er gearbeitet statt regeneriert. Das ist nicht „schlecht geschlafen“ im normalen Sinn, sondern Ausdruck einer tiefer liegenden Störung.

Das autonome Nervensystem: Wenn der Körper seine Grundfunktionen nicht mehr leise im Hintergrund regelt

Das autonome Nervensystem ist der unsichtbare Dirigent. Es regelt Herzfrequenz, Blutdruck, Gefäßspannung, Verdauung, Temperatur. Viele Menschen mit ME/CFS merken diese Regulation plötzlich ständig. Der Kreislauf kippt. Das Herz rast beim Aufstehen. Man fühlt sich im Stehen schlechter als im Liegen. Der Körper wirkt, als würde er die alltäglichen Umschaltungen nicht mehr sicher schaffen.

Für Außenstehende ist das schwer, weil es in Wellen kommt und nicht immer sichtbar ist. Der Betroffene sitzt da, redet, wirkt ruhig. Aber innerlich läuft ein Kampf gegen Herzrasen, gegen Blutdruckabfall, gegen das Wegdriften. Das kostet Energie. Und diese Energie ist bei ME/CFS ohnehin knapp.

Mikrozirkulation und Sauerstoff: Wenn Versorgung nicht stabil ankommt und der Körper schneller in den Notbetrieb gerät

Viele Symptome bei ME/CFS lassen sich mit einer gestörten Versorgung vereinbaren: Muskeln, Gehirn, Organe bekommen nicht stabil das, was sie bräuchten, besonders unter Belastung. Wenn die Mikrozirkulation gestört ist, kann die große Durchblutung „normal“ aussehen, während die Versorgung in der Fläche nicht stimmt. Für Betroffene fühlt sich das oft an wie „Sparflamme“.

Das ist keine Faulheitslogik. Es ist eine Überlebenslogik. Der Körper priorisiert. Er schützt, was er schützen muss. Und er tut das nicht elegant, sondern grob. Deshalb kann ME/CFS so widersprüchlich wirken: Man kann vielleicht noch sprechen, aber nicht mehr gehen. Man kann vielleicht noch kurz lächeln, aber danach zwei Tage nicht mehr reagieren.

Stressachse und Hormonregulation: Nicht „Stress ist die Ursache“, sondern „Stress wird nicht mehr normal verarbeitet“

Kaum ein Thema ist so heikel wie das Wort Stress. In der Biologie bedeutet Stress nicht Schuld, sondern Regulation. Ein gesunder Körper kann Stress aktivieren und wieder herunterfahren. Bei ME/CFS gibt es Hinweise, dass diese Umschaltungen nicht mehr zuverlässig funktionieren. Dann kann selbst eine geringe Belastung eine große körperliche Reaktion auslösen.

Für Betroffene ist das wichtig, weil es Schuld entlastet. Viele zweifeln an sich und fragen sich, ob sie „zu sensibel“ geworden sind. Wenn man die Stressachse als Teil eines körperlichen Systems sieht, wird klar: Es geht nicht um Wollen. Es geht um Steuerung.

Warum manche nach der Infektion zurückkehren – und andere nicht

Warum trifft es den einen und nicht den anderen? Die ehrliche Antwort ist: Man weiß es nicht endgültig. Aber man vermutet, dass individuelle Anfälligkeiten eine Rolle spielen können, etwa genetische Faktoren, Besonderheiten des Immunsystems oder eine physiologische Vorgeschichte. Das ist keine Schuldzuweisung, sondern der Versuch zu erklären, warum Menschen unterschiedlich reagieren.

Vergleichssätze wie „Andere hatten das auch und sind wieder fit“ sind deshalb nicht nur verletzend, sie sind auch biologisch naiv. Menschen reagieren unterschiedlich. Das gilt für jede Krankheit. Bei ME/CFS wird es besonders sichtbar, weil die Krankheit oft schwer zu „beweisen“ scheint, obwohl sie real ist.

„Das ist doch psychisch“: Der Satz, der eine körperliche Erkrankung in ein moralisches Problem verwandelt

Wenn ME/CFS als psychosomatisch abgetan wird, wird aus Krankheit ein Vorwurf. Natürlich hat jede schwere chronische Krankheit psychische Folgen. Angst, Trauer, Wut, Verzweiflung sind normale Reaktionen auf ein Leben, das plötzlich eng wird. Aber diese Folgen sind nicht die Ursache. Wer Ursache und Folge verwechselt, behandelt am falschen Ort und erhöht oft die Belastung.

Psychische Unterstützung kann sinnvoll sein, nicht weil sie die Krankheit erklärt, sondern weil das Leben mit ihr Grenzen verschiebt. Unterstützung sagt: Du leidest, und das ist schwer. Schuldzuweisung sagt: Du machst es falsch. Diese Unterscheidung ist für Betroffene und Angehörige zentral.

Das soziale Gewicht der Unsichtbarkeit: Wenn der Körper nicht mit Beweisen wedelt

ME/CFS ist nicht nur eine medizinische Herausforderung, es ist eine soziale. Weil die Krankheit oft unsichtbar ist, muss der Betroffene erklären, begründen, rechtfertigen. Das kostet Energie, die nicht da ist. Und es erzeugt ein Paradox: Um anerkannt zu werden, muss man leisten. Aber Leistung verschlechtert den Zustand.

Viele erleben eine sekundäre Verletzung: das wiederholte Nicht-Glauben, das Herunterspielen, das Misstrauen. Das ist nicht nur unangenehm. Es kann Versorgung verzögern, falsche Behandlungen begünstigen und Beziehungen belasten. Empathie bedeutet hier, die Logik der Krankheit ernst zu nehmen, auch wenn sie dem eigenen Bauchgefühl widerspricht.

Die Anerkennung der Komplexität ist kein Ausweichen – sie ist der erste Schritt zur Wahrheit

ME/CFS hat nicht die eine Ursache. Diese Aussage ist keine Kapitulation, sondern Genauigkeit. Sie sagt: Der Körper besteht aus Systemen, die miteinander sprechen. Wenn diese Kommunikation nach einer Infektion entgleist, kann ein Zustand entstehen, der nicht durch Willenskraft auflösbar ist. Wer ME/CFS verstehen will, muss bereit sein, das Offensichtliche zu hinterfragen und das Unsichtbare ernst zu nehmen.

Das ist unbequem. Aber es ist auch eine Form von Würde. Denn Würde beginnt dort, wo man einem Menschen nicht unterstellt, er müsse sich nur anders verhalten, um nicht mehr krank zu sein.



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