Wie eine Krankheit sichtbar wird, wenn man endlich bereit ist, genau hinzusehen!
Es beginnt oft mit einem Wort, das harmlos klingt und doch alles verformt. Müdigkeit. Ein Wort aus dem Alltag, ein Wort, das man kennt, eines, das keinen Schrecken trägt.

Wer müde ist, soll schlafen. Wer erschöpft ist, soll sich erholen.
Wer länger müde bleibt, soll sich zusammennehmen, sich sortieren, wieder in den Rhythmus kommen. Genau hier beginnt das Problem von ME/CFS. Nicht, weil Betroffene müde wären, sondern weil dieses Wort das Geschehen entstellt.
ME/CFS ist kein Zustand der Müdigkeit. Es ist ein Zusammenbruch der Belastbarkeit. Ein Zustand, in dem der Körper auf Anforderungen nicht mehr mit Anpassung reagiert, sondern mit Verschlechterung. Ein Zustand, in dem das Leben nicht einfach langsamer wird, sondern fragiler. Viele Betroffene berichten, dass sie nicht weniger leisten, weil sie nicht wollen, sondern weil ihr Körper nach Belastung etwas tut, das sie selbst nicht mehr kontrollieren können: er kippt. Nicht sofort, nicht dramatisch sichtbar, sondern zeitversetzt, tiefgreifend und langanhaltend.
Die Canada-Kriterien sind aus genau diesem Missverständnis heraus entstanden. Sie sind kein Versuch, ME/CFS enger zu fassen, sondern genauer. Sie wollen nicht erklären, warum jemand leidet, sondern beschreiben, wie dieses Leiden aussieht, wenn man es ernst nimmt. Sie sind kein Kompromiss, sondern eine Grenze. Eine Grenze gegen Verharmlosung, gegen falsche Vergleiche, gegen die Idee, dass sich alles mit Motivation, Training oder psychischer Arbeit lösen ließe.
Warum ME/CFS lange nicht verstanden werden konnte
ME/CFS ist eine Krankheit, die sich dem schnellen Blick entzieht. Sie hinterlässt oft keine eindeutigen Marker, keine spektakulären Bilder, keine klaren Laborwerte, die alles erklären. Was bleibt, ist das Erleben der Betroffenen. Und genau das wurde lange als zu subjektiv abgetan. Zu wenig greifbar. Zu schwer einzuordnen.
Frühere Definitionen von „chronischer Erschöpfung“ trugen zu diesem Problem bei. Sie stellten die Dauer der Müdigkeit in den Mittelpunkt, nicht ihre Qualität. Damit wurden sehr unterschiedliche Zustände unter einem Begriff gesammelt. Für Forschung und Versorgung hatte das fatale Folgen. Studien untersuchten Gruppen, die nicht dasselbe hatten. Therapien wurden empfohlen, die für viele Betroffene nicht nur wirkungslos waren, sondern schädlich. Die Idee, dass man Belastung steigern müsse, um wieder belastbar zu werden, wurde zur Norm – obwohl sie bei ME/CFS genau das Gegenteil bewirkt.
Die Canada-Kriterien sind eine Reaktion auf dieses Scheitern. Sie sind der Versuch, ME/CFS nicht länger als unspezifisches Erschöpfungssyndrom zu betrachten, sondern als eigenständige, multisystemische Erkrankung mit einem klaren inneren Muster.
Der Grundgedanke der Canada-Kriterien: Nicht Müdigkeit, sondern Belastungsversagen
Diagnostische Anforderungen
Hier ist die Liste der Canada-Kriterien (Canadian Consensus Criteria, 2003) – also die Diagnose-Anforderungen, so wie sie in der Konsensus-Definition formuliert sind.
Pflichtkriterien (müssen erfüllt sein)
- Fatigue (krankhafte Erschöpfung) – neu aufgetreten, deutlich, anhaltend, nicht erklärbar und mit klarer Einschränkung des Aktivitätsniveaus.
- Post-Exertional Malaise (PEM) / postexertionelle Verschlechterung – eine ausgeprägte, oft verzögerte und lang anhaltende Verschlechterung nach körperlicher, geistiger oder emotionaler Belastung.
- Schlafstörung / nicht erholsamer Schlaf – Schlaf, der nicht regeneriert, oder deutlich gestörter Schlaf.
- Schmerz – z. B. Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen oder Kopfschmerzen (Art kann variieren, das Vorhandensein ist zentral).
- Neurologische/kognitive Manifestationen: mindestens zwei Symptome (z. B. Konzentrationsstörung, Gedächtnisprobleme, verlangsamtes Denken, Reizüberempfindlichkeit u. a.).
Zusatzkriterien aus Systemgruppen (Mindestanforderung)
- Mindestanforderung: Mindestens ein Symptom aus mindestens zwei der folgenden drei Kategorien:
Autonome Manifestationen
- z. B. Kreislauf-/Orthostaseprobleme, Herzrasen, Schwindel, Magen-Darm-Dysregulation u. a.
Neuroendokrine Manifestationen
- z. B. Temperaturregulationsstörung, Hitze-/Kälteintoleranz, ausgeprägte Verschlechterung durch Stress u. a.
Immunologische Manifestationen
- z. B. grippiges Gefühl, Hals-/Lymphknotensymptome, Infektanfälligkeit u. a.
Dauer-Kriterium
- Persistenz der Erkrankung über mindestens 6 Monate (bei Kindern wird teils eine kürzere Dauer diskutiert).
Das zentrale Umdenken der Canada-Kriterien liegt in einer einfachen, aber folgenreichen Frage: Was passiert nicht vor der Erschöpfung, sondern nach der Belastung? Diese Perspektive verändert alles. Denn bei ME/CFS liegt das Kernproblem nicht in der fehlenden Energie, sondern in der Unfähigkeit des Körpers, Belastung zu verarbeiten.
Die Canada-Kriterien stellen deshalb die sogenannte Post-Exertional Malaise in den Mittelpunkt. Sie ist kein Zusatzmerkmal, kein optionales Symptom, sondern das diagnostische Herz der Erkrankung. Gemeint ist eine krankhafte Reaktion auf körperliche, geistige oder emotionale Anstrengung, die zu einer deutlichen Verschlechterung des Zustands führt. Diese Verschlechterung ist oft zeitlich verzögert, tritt Stunden oder Tage nach der Belastung auf und hält unverhältnismäßig lange an.
Für Betroffene bedeutet das: Ein Gespräch kann sie für Tage außer Gefecht setzen. Ein kurzer Weg kann einen Zusammenbruch auslösen, der sich nicht mehr abfangen lässt. Der Körper reagiert nicht mehr proportional. Er reagiert nicht mehr regenerativ. Er reagiert mit einem Systemabsturz.
Die Canada-Kriterien im Inneren betrachtet: Wie ME/CFS diagnostisch gedacht wird
Die Canada-Kriterien beginnen mit der Forderung nach einer neu aufgetretenen, anhaltenden und krankhaften Erschöpfung. Diese Erschöpfung unterscheidet sich grundlegend von allem, was Betroffene zuvor kannten. Sie markiert einen Bruch im Leben. Das Aktivitätsniveau sinkt deutlich und dauerhaft im Vergleich zur Zeit vor der Erkrankung. Diese Erschöpfung lässt sich nicht durch Schlaf beheben, nicht durch Schonung ausgleichen, nicht durch Willenskraft überwinden. Sie wird zum dauerhaften Hintergrundzustand, vor dem sich jeder Alltag abspielt.
Doch genau hier machen die Canada-Kriterien eine entscheidende Klarstellung: Diese Erschöpfung allein definiert ME/CFS nicht. Sie ist notwendig, aber nicht ausreichend. Erst durch die krankhafte Reaktion auf Belastung wird das Krankheitsbild vollständig. Die Post-Exertional Malaise beschreibt, dass der Körper nach Anstrengung nicht in Erholung übergeht, sondern in Verschlechterung. Diese Verschlechterung ist nicht nur stärker als normale Müdigkeit, sie folgt auch einer anderen Logik. Sie ist verzögert, unberechenbar und langanhaltend. Der Körper verliert die Fähigkeit, sein Gleichgewicht wiederzufinden.
Ein weiterer zentraler Bestandteil der Canada-Kriterien ist der Verlust der erholsamen Funktion des Schlafs. Schlaf wird nicht mehr als Reparatur erlebt, sondern als Zustand, der vergeht, ohne etwas zurückzugeben. Viele Betroffene wachen auf und fühlen sich, als hätten sie nicht geschlafen. Andere schlafen lange und tief, ohne dass sich ihr Zustand bessert. Die Kriterien erkennen darin ein Zeichen gestörter körperlicher Regulation, nicht bloß ein Schlafproblem.
Schmerz ist ein weiteres unverzichtbares Kriterium. Er kann viele Formen annehmen und ist oft wechselhaft. Muskel- und Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, diffuse Beschwerden ohne klare Lokalisation gehören für viele Betroffene zum Alltag. Die Canada-Kriterien machen deutlich, dass ME/CFS nicht nur eine Erkrankung der Energie ist, sondern auch des Schmerzsystems. Schmerz ist hier kein Nebenprodukt, sondern Teil des Krankheitskerns.
Hinzu kommen neurologische und kognitive Beeinträchtigungen. Die Kriterien verlangen, dass mindestens zwei solcher Symptome vorhanden sind. Gemeint sind Konzentrationsstörungen, Gedächtnisprobleme, verlangsamtes Denken, Reizüberempfindlichkeit. Für viele Betroffene bedeutet das einen tiefen Einschnitt in die eigene Identität. Denken wird anstrengend. Gespräche werden riskant. Sprache ist nicht mehr zuverlässig verfügbar. Der Kopf, der früher getragen hat, beginnt zu schwanken.
Darüber hinaus berücksichtigen die Canada-Kriterien Symptome aus weiteren Körpersystemen. Autonome Störungen wie Kreislaufprobleme, Schwindel, Herzklopfen oder eine geringe Toleranz für aufrechtes Stehen zeigen, dass die automatische Regulation des Körpers gestört ist. Neuroendokrine Auffälligkeiten wie Temperaturregulationsstörungen oder ausgeprägte Stressintoleranz deuten darauf hin, dass der Körper nicht mehr angemessen hoch- und herunterregeln kann. Immunologische Symptome wie grippeähnliches Krankheitsgefühl, Halsschmerzen oder geschwollene Lymphknoten weisen auf eine Beteiligung des Immunsystems hin.
Wichtig ist, dass die Canada-Kriterien diese Merkmale nicht isoliert betrachten. Ihre diagnostische Aussage entsteht erst durch das Zusammenspiel. Nicht ein einzelnes Symptom definiert ME/CFS, sondern das charakteristische Muster aus Belastungsintoleranz, anhaltender Erschöpfung, nicht erholsamem Schlaf, Schmerz, kognitiven Einschränkungen sowie autonomen, neuroendokrinen und immunologischen Auffälligkeiten. Genau dieses Muster macht die Erkrankung unterscheidbar und schützt davor, sie mit Depressionen, Burnout oder unspezifischer Erschöpfung zu verwechseln.
Warum diese Kriterien für Betroffene und Angehörige so bedeutsam sind
Für viele Erkrankte sind die Canada-Kriterien der erste Moment, in dem ihr Erleben in einer Sprache auftaucht, die es nicht abwertet. Sie erklären nicht alles, aber sie widersprechen der Idee, dass es sich um fehlenden Willen, falsche Einstellung oder psychische Schwäche handelt. Sie geben dem Leiden Struktur, ohne es zu verkleinern.
Für Angehörige können sie ein Wendepunkt sein. Weil sie zeigen, dass Rückzug nicht Faulheit ist. Dass Schonung kein Aufgeben ist. Dass Grenzen keine Ausrede sind, sondern Schutzmechanismen eines Körpers, der sich nicht mehr selbst regulieren kann.
Präzision als Form von Würde
Die Canada-Kriterien heilen ME/CFS nicht. Aber sie tun etwas, das lange gefehlt hat. Sie nehmen die Krankheit ernst genug, um sie nicht zu vereinfachen. Sie beschreiben sie so genau, dass sie nicht mehr beliebig wird. Und sie geben Betroffenen etwas zurück, das im medizinischen Alltag oft verloren geht: das Gefühl, nicht falsch zu sein in dem, was sie erleben.
Manchmal ist das der erste Schritt. Nicht zurück ins alte Leben. Aber weg von der ständigen Infragestellung. Hin zu einer Sprache, die schützt.
Wenn Kriterien mehr sagen als Diagnosen: Die stille Entlastung, ernst genommen zu werden
Für viele Betroffene beginnt mit dem Verständnis der Canada-Kriterien kein medizinischer Durchbruch, sondern etwas Leiseres, vielleicht sogar Wichtigeres: eine Entlastung. Nicht, weil plötzlich alles erklärt wäre, sondern weil sich etwas ordnet. Weil das eigene Erleben nicht mehr als diffuse Ansammlung von Beschwerden dasteht, sondern als zusammenhängendes Muster. Viele beschreiben diesen Moment nicht als Erleichterung im klassischen Sinne, sondern als eine Art inneres Stillwerden. Als würde der ständige innere Rechtfertigungsdruck kurz nachlassen.
Denn wer über Jahre erlebt, dass der eigene Körper nach Belastung zusammenbricht, lernt oft, sich selbst zu misstrauen. War es wirklich zu viel? Habe ich mich falsch eingeschätzt? Habe ich mich vielleicht doch übernommen, obwohl es objektiv wenig war? Die Canada-Kriterien durchbrechen diese Spirale. Sie sagen nicht: Du hättest besser aufpassen müssen. Sie sagen: Dein Körper reagiert krankhaft auf Belastung. Punkt. Nicht moralisch, nicht charakterlich, nicht psychologisch – sondern biologisch.
Gerade die zentrale Rolle der Post-Exertional Malaise wirkt hier wie eine stille Rehabilitation. Sie erklärt, warum gut gemeinte Ratschläge so oft schaden. Warum „ein bisschen mehr Bewegung“ kein neutrales Angebot ist, sondern ein Risiko. Warum Planung nicht Freiheit bedeutet, sondern Kalkulation. Wer ME/CFS nach den Canada-Kriterien versteht, begreift, dass Aktivität bei dieser Erkrankung keine Ressource ist, sondern ein Kostenfaktor – und dass diese Kosten nicht sofort sichtbar werden.
Die unsichtbare Zeit: Warum Verzögerung so zerstörerisch wirkt
Ein Aspekt der Canada-Kriterien, der oft unterschätzt wird, ist die Betonung der zeitlichen Verzögerung. Dass sich die Verschlechterung nicht sofort zeigt, sondern später. Diese Verzögerung ist mehr als ein klinisches Detail. Sie ist sozial hochrelevant. Denn sie macht ME/CFS im Alltag unsichtbar.
Wer heute etwas schafft und morgen zusammenbricht, wird oft am Heute gemessen. Am Lächeln, an der Teilnahme, an dem einen Termin, der scheinbar funktioniert hat. Das Morgen zählt nicht. Es passt nicht in die Logik von Leistungsbeurteilung. Die Canada-Kriterien widersprechen dieser Logik. Sie bestehen darauf, dass Ursache und Wirkung bei ME/CFS zeitlich entkoppelt sind. Dass man den Preis oft erst zahlt, wenn niemand mehr hinsieht.
Für Betroffene bedeutet das, ständig in Vorleistung zu gehen – nicht körperlich, sondern erklärend. Sie müssen Zusammenhänge herstellen, die nicht sichtbar sind. Sie müssen erklären, warum sie absagen, obwohl sie gestern da waren. Warum sie heute liegen, obwohl sie vorgestern noch gesprochen haben. Die Kriterien geben diesem Erklären einen Rahmen. Sie machen aus dem „Widerspruch“ ein bekanntes Muster.
Zwischen Anpassung und Selbstverlust: Wenn der Körper das Leben diktiert
ME/CFS zwingt zu Anpassung. Nicht im Sinne von Optimierung, sondern im Sinne von Reduktion. Viele Betroffene beschreiben, dass ihr Leben immer kleiner wird, nicht aus Resignation, sondern aus Notwendigkeit. Termine werden gestrichen, Kontakte ausgedünnt, Tätigkeiten aufgegeben. Nicht, weil sie keinen Wert mehr hätten, sondern weil der Körper den Preis nicht mehr zahlen kann.
Die Canada-Kriterien erfassen diesen Prozess indirekt, aber deutlich. Sie sprechen vom deutlichen Verlust des früheren Aktivitätsniveaus. Das klingt nüchtern, fast technisch. Doch dahinter stehen biografische Brüche. Berufe, die nicht mehr ausgeübt werden können. Rollen, die verloren gehen. Selbstbilder, die zerfallen. Wer diesen Punkt liest, ohne die emotionale Dimension mitzudenken, verpasst einen wesentlichen Teil der Erkrankung.
Gleichzeitig schützen die Kriterien hier vor einer gefährlichen Verdrehung. Sie machen klar, dass dieser Rückzug keine depressive Vermeidung ist, keine Kapitulation, kein fehlender Wille. Er ist eine Reaktion auf ein krankes System. Ein Versuch, Schaden zu begrenzen. In dieser Lesart wird Schonung nicht zum Problem, sondern zur Strategie des Überlebens.
Warum Schlaf, Schmerz und Denken zusammengehören
Ein weiterer wichtiger Gedanke der Canada-Kriterien liegt in der Art, wie sie Symptome miteinander verbinden. Schlafstörung, Schmerz und kognitive Beeinträchtigung stehen nicht nebeneinander wie zufällige Punkte, sondern wirken wie unterschiedliche Ausdrucksformen desselben Grundproblems: der gestörten Regulation.
Wenn Schlaf nicht mehr erholt, bleibt der Körper in einem Zustand permanenter Alarmbereitschaft. Wenn Schmerz dauerhaft präsent ist, verbraucht er Energie, auch dann, wenn man ruht. Wenn Denken anstrengend wird, weil Konzentration und Reizfilter versagen, kostet selbst Passivität Kraft. Die Kriterien beschreiben diese Bereiche nicht isoliert, sondern als Teil eines Kreislaufs, der sich selbst verstärkt.
Für viele Betroffene ist es gerade diese Kombination, die sie sprachlos macht. Nicht ein einzelnes Symptom ist überwältigend, sondern das Zusammenspiel. Der Schmerz macht müde, die Müdigkeit verstärkt die kognitive Schwäche, die kognitive Schwäche erhöht den Stress, der Stress verschlechtert den Schlaf. Die Canada-Kriterien geben diesem Erleben Struktur, ohne es zu vereinfachen.
Autonome und immunologische Symptome: Wenn der Körper seine Grundfunktionen verliert
Besonders schwer zu verstehen – für Außenstehende wie für Betroffene – sind die autonomen und immunologischen Symptome, die die Canada-Kriterien ausdrücklich einbeziehen. Kreislaufprobleme, Temperaturstörungen, Herzrasen, Infektgefühle ohne Infekt. All das wirkt im Alltag oft widersprüchlich. Mal geht es besser, mal schlechter. Mal scheint der Körper stabil, dann wieder völlig außer Kontrolle.
Die Kriterien ordnen diese Symptome nicht als Nebenkriegsschauplätze ein, sondern als Hinweise darauf, dass grundlegende Steuerungssysteme betroffen sind. Das autonome Nervensystem, das normalerweise unbemerkt für Stabilität sorgt, wird spürbar – und gerade das ist beunruhigend. Denn was normalerweise automatisch läuft, muss plötzlich bedacht werden. Stehen, Sitzen, Duschen, Essen. Alles wird zur Entscheidung.
Für Angehörige ist das oft schwer nachvollziehbar. Warum kann jemand heute nicht stehen, obwohl er gestern noch ging? Warum löst Wärme plötzlich einen Zusammenbruch aus? Die Canada-Kriterien liefern keine einfache Erklärung, aber sie liefern einen Rahmen, der diese Schwankungen nicht als Willkür interpretiert, sondern als Ausdruck eines instabilen Systems.
Abgrenzung als Schutz: Warum die Canada-Kriterien auch Nein sagen
Ein oft übersehener Aspekt der Canada-Kriterien ist ihre klare Abgrenzung. Sie sind nicht darauf ausgelegt, möglichst viele Menschen einzuschließen. Sie sagen auch Nein. Nein zu Zuständen, bei denen die Belastungsintoleranz fehlt. Nein zu Erschöpfung ohne postexertionelle Verschlechterung. Nein zu Modellen, die psychische Ursachen in den Vordergrund stellen, ohne das körperliche Muster zu erklären.
Dieses Nein ist kein Ausschluss aus Arroganz, sondern ein Schutz. Für die Forschung, weil nur vergleichbare Krankheitsbilder sinnvoll untersucht werden können. Für die Versorgung, weil falsche Zuordnungen zu falschen Therapien führen. Und für Betroffene, weil sie davor bewahrt werden, an Behandlungen zu scheitern, die ihre Erkrankung nicht berücksichtigen.
Ein offenes Ende: Wissen ohne Versprechen
Die Canada-Kriterien sind kein Endpunkt. Sie erklären nicht, warum ME/CFS entsteht. Sie sagen nichts darüber, wie es geheilt werden kann. Sie machen keine Prognosen. Und vielleicht liegt gerade darin ihre Ehrlichkeit. Sie behaupten nicht mehr, als sie halten können. Sie beschreiben, was ist – nicht, was sein sollte.
Für viele Betroffene ist das schmerzhaft. Denn Wissen ohne Lösung ist schwer auszuhalten. Aber Wissen ohne Verharmlosung ist ein Anfang. Ein Anfang für Forschung, die genauer hinsieht. Für Medizin, die vorsichtiger wird. Für Angehörige, die verstehen lernen, dass Rückzug kein Zeichen von Aufgeben ist.
Gesehen werden, ohne erklärt zu werden
Am Ende erzählen die Canada-Kriterien keine Geschichte von Heilung. Sie erzählen eine Geschichte von Anerkennung. Sie sagen: Diese Krankheit ist real, auch wenn sie sich nicht beweist, wie andere es tun. Sie ist komplex, auch wenn wir einfache Antworten bevorzugen. Und sie ist schwer, auch wenn sie nach außen leise bleibt.
Für viele Betroffene ist das nicht wenig. Es ist vielleicht das erste Mal, dass ihr Erleben nicht korrigiert, sondern beschrieben wird. Nicht infrage gestellt, sondern eingeordnet. Und manchmal ist genau das der Moment, in dem man aufhört, sich selbst zu bekämpfen – und anfängt, den eigenen Körper ernst zu nehmen.
Arbeit, Leistung und der stille Ausschluss
ME/CFS kollidiert früh mit einem der härtesten Dogmen unserer Gesellschaft: der Idee, dass Leistungsfähigkeit eine Frage des Willens sei. Wer nicht arbeitet, gilt schnell als jemand, der nicht kann oder nicht will. Wer ausfällt, muss sich erklären. Wer lange ausfällt, rechtfertigen. Die Canada-Kriterien stehen quer zu dieser Logik, ohne sie offen zu attackieren. Sie tun etwas Subtileres: Sie beschreiben ein Krankheitsbild, bei dem Leistung selbst zum Auslöser von Schaden wird.
Für viele Betroffene ist der Verlust der beruflichen Rolle einer der schmerzhaftesten Einschnitte. Nicht nur finanziell, sondern identitär. Arbeit bedeutet Struktur, Zugehörigkeit, Sinn, Selbstwirksamkeit. Wenn sie wegfällt, entsteht ein Vakuum, das nicht einfach mit Schonung gefüllt werden kann. Die Canada-Kriterien erfassen diesen Verlust nicht emotional, aber strukturell. Sie sprechen von einem deutlichen Abfall des Aktivitätsniveaus im Vergleich zum früheren Leben. In dieser nüchternen Formulierung steckt die Realität ganzer Biografien, die plötzlich nicht mehr fortgeschrieben werden können.
Gleichzeitig erklären die Kriterien, warum der Versuch, „zurückzukehren“, so oft scheitert. Wer nach ME/CFS-Kriterien erkrankt ist, kann nicht schrittweise trainieren wie nach einer Verletzung. Belastung führt nicht zu Aufbau, sondern zu Abbau. Das ist schwer zu akzeptieren – für Betroffene selbst ebenso wie für Arbeitgeber, Behörden, Gutachter. Die Kriterien liefern hier keine moralische Verteidigung, aber eine medizinische. Sie sagen: Dieses System funktioniert anders. Wer das ignoriert, richtet Schaden an.
Der Druck, normal zu wirken
Ein besonders stiller, aber zerstörerischer Aspekt von ME/CFS ist der Druck, nach außen normal zu erscheinen. Viele Betroffene berichten, dass sie gelernt haben, ihre Symptome zu verbergen. Nicht aus Täuschung, sondern aus Selbstschutz. Weil Erklären müde macht. Weil Zweifel verletzt. Weil man nicht jeden Tag neu beweisen kann, dass man krank ist.
Die Canada-Kriterien stehen im Widerspruch zu dieser sozialen Maske. Sie beschreiben eine Erkrankung, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht immer sichtbar ist. Dass jemand an einem Tag sprechen, lachen, anwesend sein kann – und am nächsten kaum aus dem Bett kommt. Diese Schwankungen sind kein Zeichen von Unzuverlässigkeit, sondern Teil des Krankheitsmusters. Doch gesellschaftlich werden sie oft als Widerspruch gelesen. Als Inkonsequenz. Als Unglaubwürdigkeit.
Hier entsteht ein zusätzlicher Druck: der Druck, konsistent krank zu sein. Immer gleich. Immer sichtbar. Die Canada-Kriterien durchbrechen diesen Anspruch. Sie machen deutlich, dass ME/CFS kein statischer Zustand ist, sondern ein fragiles Gleichgewicht. Dass gute Tage nicht gesund sind. Und schlechte Tage keine Übertreibung.
Angehörige zwischen Nähe und Ohnmacht
Für Angehörige ist ME/CFS oft eine stille Zumutung. Nicht, weil sie nicht helfen wollen, sondern weil sie nicht wissen, wie. Die Krankheit entzieht sich den gewohnten Mustern von Unterstützung. Man kann nicht einfach motivieren, nicht einfach aufbauen, nicht einfach „da sein“ im klassischen Sinne. Nähe kann überfordern. Aktivität kann schaden. Gut gemeinte Vorschläge können Verschlechterungen auslösen.
Die Canada-Kriterien können hier eine Brücke sein. Nicht, weil sie Lösungen liefern, sondern weil sie erklären, warum viele intuitive Hilfsangebote ins Leere laufen. Sie zeigen, dass Rückzug kein Beziehungsabbruch ist. Dass Absagen kein Desinteresse sind. Dass Schonung keine Passivität bedeutet, sondern Schutz.
Für viele Angehörige ist es ein Wendepunkt, zu verstehen, dass sie den Zustand nicht reparieren können. Dass ihre Aufgabe nicht darin liegt, den alten Menschen zurückzuholen, sondern den jetzigen zu begleiten. Das ist schmerzhaft, weil es Abschied bedeutet. Abschied von Erwartungen, von gemeinsamen Plänen, von einem „Danach“, das plötzlich ungewiss wird. Die Kriterien geben diesem Abschied keine Sprache, aber sie legitimieren ihn.
Medizin zwischen Wissen und Nichtwissen
Auch für Ärztinnen und Ärzte stellen die Canada-Kriterien eine Herausforderung dar. Sie verlangen Zeit, Zuhören, Kontext. Sie lassen sich nicht in fünf Minuten abfragen. Sie passen schlecht in ein System, das auf Effizienz, Kodierung und schnelle Entscheidungen ausgerichtet ist. Und doch sind sie genau deshalb notwendig.
Die Kriterien fordern eine Medizin, die mit Nichtwissen umgehen kann. Die akzeptiert, dass nicht jede Krankheit einen klaren Biomarker hat. Dass Diagnose manchmal bedeutet, Muster zu erkennen, statt Werte abzulesen. Für viele Mediziner ist das ungewohnt, manchmal auch bedrohlich. Denn es verschiebt die Autorität: weg vom Messgerät, hin zum Erleben der Patientinnen und Patienten.
Die Canada-Kriterien sind in diesem Sinne nicht nur eine Definition von ME/CFS, sondern auch ein Prüfstein für medizinische Haltung. Sie fragen implizit: Bin ich bereit, eine Erkrankung ernst zu nehmen, auch wenn sie sich nicht so zeigt, wie ich es gelernt habe?
Gesellschaftliche Blindstellen und strukturelle Folgen
ME/CFS legt gesellschaftliche Schwächen offen. In der Arbeitswelt, im Gesundheitssystem, in der sozialen Absicherung. Viele Betroffene fallen durch Raster, weil ihre Erkrankung nicht in bekannte Kategorien passt. Zu krank für Vollzeit, zu „gesund“ für Anerkennung. Zu komplex für einfache Gutachten. Zu unsichtbar für Mitgefühl.
Die Canada-Kriterien wirken hier wie ein stilles Gegenargument. Sie liefern eine strukturierte Beschreibung, die sich nicht leicht wegwischen lässt. Und doch bleibt die Umsetzung schwierig. Kriterien allein verändern keine Systeme. Aber sie liefern eine Grundlage, auf der Veränderung möglich wird. Ohne sie bleibt ME/CFS ein individuelles Problem. Mit ihnen wird es als strukturelles Versagen sichtbar.
Leben mit Ungewissheit
Ein Aspekt, den die Canada-Kriterien nicht lösen können, ist die Frage nach der Zukunft. Sie machen keine Prognosen. Sie sagen nichts darüber, ob und wann Besserung möglich ist. Für Betroffene ist diese Ungewissheit oft schwerer zu tragen als die Symptome selbst. Denn sie verhindert Planung. Hoffnung wird vorsichtig, zurückhaltend, manchmal fast misstrauisch.
Und doch liegt in den Kriterien auch hier eine Form von Schutz. Sie verhindern falsche Versprechen. Sie widersprechen der Idee, dass es nur genug Anstrengung brauche. Sie erlauben, das eigene Tempo ernst zu nehmen, auch wenn es nicht dem gesellschaftlichen Ideal entspricht.
Ernst genommen werden, ohne reduziert zu werden
Am Ende sind die Canada-Kriterien kein Triumph der Medizin, sondern ein Akt der Demut. Sie sagen: Wir verstehen diese Krankheit noch nicht vollständig. Aber wir erkennen an, dass sie real ist, schwer ist und ein eigenes Muster hat. Wir verzichten auf einfache Erklärungen, weil sie dem Leiden nicht gerecht würden.
Für Betroffene bedeutet das nicht Heilung. Aber es bedeutet, nicht länger allein gegen Missverständnisse kämpfen zu müssen. Es bedeutet, dass ihr Erleben einen Platz hat – nicht als Ausnahme, nicht als Randnotiz, sondern als benennbares Krankheitsbild.
Und manchmal ist genau das der Unterschied zwischen zusätzlicher Verletzung und einem kleinen Stück Halt. Zwischen ständiger Verteidigung und einem Moment des Aufatmens. Zwischen dem Gefühl, falsch zu sein – und dem Wissen, krank zu sein.






